: Algernon Blackwood
: Der Zentaur Ein mystischer Roman
: Festa Verlag
: 9783865523426
: H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens
: 1
: CHF 7.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 352
: kein Kopierschutz/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Europa Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf einer Reise in das geheimnisvolle Bergland der Karpaten sichtet der britische Naturphilosoph O?Malley eine Schar mythischer Geschöpfe. Dies und seine Begegnung mit dem schweigenden Fremden bestätigt ihn in seiner Überzeugung, dass unser Planet ein lebendiges, beseeltes Wesen ist. Unsere Welt ließe sich von der Krankheit des modernen Lebens heilen, so O?Malley, würde die Menschheit zu einem einfachen Leben am Herzen der Mutter Erde zurückkehren. DER ZENTAUR ist ein poetischer Ideenroman und enthält die Kernideen einer Naturphilosphie. Usch Kiausch hat den Roman in eine moderne Sprache übersetzt, die nicht vor Überschwänglichkeiten strotzt, die aber dennoch möglichst werkgetreu ist. H. P. Lovecraft: 'Über den Rang von Algernon Blackwoods Genie lässt sich nicht streiten [?]. Wahrscheinlich zu subtil für eine Klassifizierung als Horrorgeschichten, möglicherweise jedoch in einem absoluten Sinn künstlerisch reifer, sind so feingesponnene Fantasien wie JIMBO oder THE CENTAUR. In diesen Romanen gelingt es Blackwood, sich dicht und fassbar der innersten Substanz der Träume zu nähern und dabei weite Strecken der konventionellen Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie einzureißen.'

Algernon Blackwood wurde am 14. März 1869 in England geboren. Nach mehreren Auslandsaufenthalten in den USA, Kanada und der Schweiz, kehrte er 1899 nach England zurück und begann zu schreiben. Seine unheimlichen Geschichten und Romane besitzen einen deutlich psychologischen Ansatz. Unter anderem beeinflussten ihn eigene Geistererscheinungen. Einem breiteren Publikum wurde Blackwood als Radiomoderator bekannt, der es vortrefflich verstand sein Publikum durch seine eindringliche Art des Erzählens zu fesseln. H. P. Lovecraft: »Über den Rang von Algernon Blackwoods Genie lässt sich nicht streiten.«

4


»Zweifellos denken wir nur mit einem kleinen Teil unserer Vergangenheit; mit unserer gesamten Vergangenheit jedoch und darin eingeschlossen der ursprünglichen Biegung unserer Seele wünschen, begehren und handeln wir.«

Henri Bergson

Seineübrigen Mitreisenden hatten nichts Auffälliges an sich. Eine Gruppe französischer Touristen wollte nach Neapel, eine deutsche Gruppe nach Athen, einige Geschäftsleute waren auf dem Weg nach Smyrna und Konstantinopel und einige Russen wolltenüber Odessa, Batumi oder Noworossijsk nach Hause zurückkehren.

O’Malley teilte sich seine Kabine mit einem etwas rundlichen, rotgesichtigen Handelsreisenden aus Kanada, der die obere Koje belegt hatte. Er handelte mit Erntemaschinen und sein ganzes Denken kreiste um deren Bezeichnungen, Preise und Bezugsbedingungen. All das konnte er in mehreren Sprachen ausdrücken, aber es war auch schon das einzige Gebiet, auf dem er sich auskannte. Er war ein gutmütiger Mensch, der in allem nachgab, um Problemen aus dem Weg zu gehen.

»Ich würde im Bett gern noch lesen. Stört es Sie, wenn ich das Licht noch eine Weile brennen lasse?«, fragte O’Malley.

»Mich stört fast nie etwas«, erwidert der Kanadier fröhlich.»Ich bin keiner, der gern herummäkelt, sondern ein verträglicher Mensch. Machen Sie sich keine Gedanken um mich.« Er drehte sich zum Schlafen um.»Bin ja ständig auf Reisen«, drang seine gedämpfte Stimme aus den Kissen.»Ich nehme die Dinge, wie sie kommen.«

Das Einzige, was O’Malley an seinem Zimmergenossen störte, war, dass er tatsächlich alles auf sich zukommen ließ und sich um nichts scherte. Weder machte er sich die Mühe, hin und wieder ein Bad zu nehmen, noch legte er die Kleidung ab, wenn er zu Bett ging.

Den Kapitän des Schiffes, der Englisch mit starkem Akzent sprach, kannte O’Malley von früheren Reisen her. Er war ein leutseliger deutscher Seemann mit bärbeißiger Stimme aus Sassnitz und schimpfte mit O’Malley, weil er»wieüblich« fast zu spät an Bord gekommen wäre.»Sie waren so spät dran, dass ich Ihnen jetzt keinen Platz mehr an meinem Tisch anbieten kann«, brummte er, lachte jedoch dabei.»Wirklich schade. Sie hätten mir Ihre Ankunft mit einem Telegramm ankündigen sollen, dann hätte ich Ihnen einen Platz reserviert. Jetzt ist für Sie höchstens noch ein Platz am Tisch des Schiffsarztes frei!«

»Der Dampfer ist diesmal wirklich sehr gut gebucht.« O’Malley zuckte die Achseln.»Aber darf ich hin und wieder zum Rauchen zu Ihnen auf die Brücke kommen?«

»Selbstverständlich.«

»Sind irgendwelche interessanten Leute an Bord?«, fragte O’Malley nach kurzem Schweigen.

Der Kapitän lachte.»Eigentlich die gleichen Leute wie immer. Keiner, der das Schiff zum Anhalten bringen wird! Fragen Sie den Schiffsarzt, er merkt so was eher als ich. Aber die netten Passagiere werden ja sowieso immer seekrank und verschwinden von der Bildfläche. Fahren Sie diesmal nach Trapezunt?«

»Nein, nach Batumi.«

»Ach! WegenÖl?«

»Nein, ich bereise den ganzen Kaukasus– will ein bisschen Bergluft atmen.«

»Dann haben Sie hoffentlich jede Menge Waffen dabei. Da oben erschießt man Sie schon wegen zwei Pfennigen!« Und mit dem so typischen herzlichen, tiefen Lachen und einer recht behäbigen Munterkeit machte er sich auf den Weg zur Brücke.

Und so landete O’Malley bei den Mahlzeiten rechts von Doktor Stahl; ihm gegenüber, links von dem Schiffsarzt, saß ein gesprächiger Moskauer Pelzhändler, der dezidierte Ansichtenüber alles und jedes hegte. Nun war er davonüberzeugt, sie auch mit derübrigen Welt teilen zu müssen; also gab er– fast im Ton päpstlicher Dekrete– wortreich Allgemeinplätze von sich, die zuweilen amüsant, meistens aber langweilig waren. Rechts von ihm saß ein armenischer Geistlicher– er hatte sanfte Augen und einen braunen Vollbart– aus dem venezianischen Kloster, das Byron Schutz gewährt hatte. Bis auf die Suppe aß er alles mit dem Messer, jedoch mit einer Eleganz, die man nur bewundern konnte. Seine Hände bewegte er so graziös, dass sie fast das Messer hätten ersetzen können, ohne dass es anstößig gewirkt hätte. Hinter dem Geistlichen saß der rundliche kanadische Handelsreisende. Er sagte kaum etwas; stattdessen verfolgte er genau, was an Gerichten aufgetragen wurde, damit ihm auch ja nichts entging, und aß. Weiter unten an der Tafel fielen der stämmige Fremde mit dem blonden Bart und sein Sohn neben zwei unscheinbaren Personen besonders auf. Da sie O’Malley und dem Arzt schräg gegenübersaßen, hatte O’Malley sie voll im Blick.

Er unterhielt sich mit allen in Hörweite, denn Menschen gegenüber, die er wahrscheinlich niemals wiedersehen würde, war er durchaus mitteilsam. Besonders freute er sich, dass man ihn neben dem Schiffsarzt Dr. Heinrich Stahl platziert hatte, denn der Mann zog ihn einerseits an, andererseits forderte er ihn zum Widerspruch heraus, und sie hatten sich schon auf mehr als einer Reise hitzige Wortgefechte geliefert. Im Charakter des Arztes gab es eine fundamentale Unstimmigkeit, wie O’Malley spürte: Dessen persönliche Erfahrungen entsprachen nämlich leider nicht seinenÜberzeugungen– und umgekehrt. Zwar gab er vor, an nichts zu glauben, ließ aber trotzdem gelegentlich Bemerkungen fallen, die einen Glauben an alle möglichen Dinge verrieten und ihn als Querdenker entlarvten. Zum Beispiel hatte er den Iren O’Malley irgendwann dazu verleitet, seinen Glauben an Feen einzugestehen, nur um im nächsten Augenblick das ganze Thema mit einer zynischen Bemerkung als absurd abzutun. In Stahls sarkastischer Haltung entdeckte O’Malley ein Gehabe, das offenbar dem Selbstschutz diente.»Kein vernünftiger Mensch kann solche Dinge hinnehmen«, hatte er bemerkt.»Sie sind einfach nur unglaubwürdig und albern.« Und doch sagte er das so bissig, dass er sich selbst damit verriet. Genau das, was seine Vernunft zurückwies, sprach sein Gefühl an.

Allerdings muss man sich fragen, wie akkurat die intensiven Eindrücke waren, die der Ire von Menschen ganz allgemein mitnahm. Im Fall von Dr. Stahl mochte sein Eindruck allerdings weitgehend zutreffen: Dass sich ein Mann mit solchen Kenntnissen und Fähigkeiten damit zufriedengeben konnte, als bloßerSchiffsarzt sein Licht unter den Scheffel zu stellen, sc