Zur gleichen Zeit…
Kriminalhauptkommissarin Pia Kirchhoff hatte Urlaub. Seit letzter Woche Donnerstag, bis zum16. Januar2013. Vier ganze Wochen! Ihr letzter richtig langer Urlaub lag fast vier Jahre zurück:2009 waren Christoph und sie in Südafrika gewesen, danach hatten sie es nur noch zu Kurzreisen geschafft, aber diesmal würde es fast auf die andere Seite des Globus gehen, nach Ecuador und von dort aus mit einem Schiff zu den Galapagosinseln. Christoph war schonöfter vom Veranstalter der exklusiven Kreuzfahrtreisen als Reiseleiter engagiert worden, und sie reiste zum ersten Mal mit– als seine Ehefrau.
Pia setzte sich auf die Bettkante und betrachtete versonnen den schmalen goldenen Ring an ihrer Hand. Der Standesbeamte war etwas irritiert gewesen, als Christoph ihr den Ring an die linke Hand gesteckt hatte, doch sie hatte ihm erklärt, dass sich links schließlich das Herz befände und sie deshalb beschlossen hätten, ihre Eheringe an der linken Hand zu tragen. Das war nur die halbe Wahrheit, denn dieser Entschluss hatte auch mehrere ganz pragmatische Gründe. Zum einen hatte Pia in ihrer ersten Ehe mit Henning den Ehering, wie es in Deutschlandüblich war, rechts getragen. Zwar war sie nichtübermäßig abergläubisch und wusste, dass das Scheitern dieser Ehe nichts damit zu tun gehabt hatte, aber sie wollte das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Zum anderen– und das war der Hauptgrund für ihre Entscheidung– war esäußerst schmerzhaft, wenn ihr jemand mit festem Händedruck die Hand gab und dabei beinahe mit dem Ring ihren Finger zerquetschte.
Christoph und sie hatten am Freitag im Standesamt in Höchst, das sich im Gartenpavillon des Bolongaropalastes befand, heimlich, still und leise geheiratet. Ohne Freunde, Familie oder Trauzeugen und ohne es jemandem zu sagen. Erst nach ihrer Rückkehr aus Südamerika würden sie es bekanntgeben und dann im nächsten Sommer ein großes Fest auf dem Birkenhof feiern.
Pia riss sich vom Anblick des Rings los und fuhr damit fort, die auf dem Bett gestapelte Wäsche möglichst platzsparend in zwei Koffern zu verstauen. Dicke Pullover und Jacken würden sie nicht brauchen. Stattdessen Sommerklamotten. T-Shirts. Shorts. Badeanzug. Sie freute sich darauf, dem Winter und dem Weihnachtsfest, dem sie nicht sonderlich viel abgewinnen konnte, zu entrinnen und stattdessen an Deck eines Kreuzfahrtschiffs in der Sonne zu dösen, zu lesen und einfach mal richtig zu faulenzen. Christoph würde zwar viel zu tun haben, aber er hatte auch Freizeit, und die Nächte gehörten ihnen allein. Vielleicht würde sie ihren Eltern, ihrer Schwester und ihrem Bruder– ja, vor allem ihm und seiner arroganten Frau– Postkarten schicken und ihnen darauf mitteilen, dass sie geheiratet hatte. Noch immer hatte sie den missbilligenden Kommentar ihrer Schwägerin Sylvia im Ohr, als diese von ihrer Trennung von Henning erfahren hatte.»Eine Frauüber dreißig wird eher vom Blitz getroffen, als dass sie noch einen Mann findet«, hatte Sylvia pessimistisch geunkt. Tatsächlich war Pia vom Blitz getroffen worden, an einem sonnigen Junimorgen vor sechs Jahren im Elefantengehege des Opel-Zoos. Denn dort waren sie und Dr. Christoph Sander, der Direktor des Zoos, sich zum ersten Mal begegnet und hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt. Seit vier Jahren lebten sie nun gemeinsam auf dem Birkenhof in Unterliederbach und waren recht bald zu dem Schluss gekommen, dass sie dies bis zum Ende ihres Lebens tun wollten.
Das Handy, das unten auf dem Küchentisch lag, fing an zu trillern. Pia lief die Treppe hinunter, ging in die Küche und warf einen Blick auf das Display, bevor sie das Gespräch entgegennahm.
»Ich habe Urlaub«, sagte sie.»Eigentlich bin ich schon so gut wie weg.«
»›Eigentlich‹ ist ein ausgesprochen schwammiger Ausdruck«, erwiderte Oliver von Bodenstein, ihr Chef, der mitunter die nervtötende Angewohnheit besaß, Worte auf die Goldwaage zu legen.»Es tut mir auch wirklich sehr leid dich zu stören. Aber ich habe ein Problem.«
»Ach.«
»Wir haben eine Leiche, ganz bei dir in der Nähe«, fuhr Bodenstein fort.»Ich bin noch in einer Brandsache unterwegs. Cem ist verreist, Kathrin hat sich krankgemeldet. Vielleicht könntest du nur mal kurz hinfahren und dich um die Formalitäten kümmern. Kröger und seine Leute sind schon unterwegs. Ich komme sofort undübernehme, sobald ich hier durch bin.«
Piaüberschlug im Kopf rasch ihre To-do-Liste. Sie war gut im Zeitplan, hatte bereits alles organisiert, was für eine dreiwöchige Abwesenheit organisiert werden musste. Die Koffer fertig zu packen war eine Sache von einer halben Stunde. Bodenstein würde sie nicht bitten, wenn er sie nicht wirklich dringend brauchte. Für ein paar Stunden konnte sie aushelfen, ohne sich einen Zacken aus der Krone zu brechen.
»Okay«, sagte sie deshalb.»Wo muss ich hin?«
»Danke, Pia, das ist echt nett von dir.« Die Erleichterung war Bodensteins Stimme anzuhören.»Nach Niederhöchstadt. Am besten biegst du dort von der Hauptstraße nach Steinbach ab. Nach ungefährachthundert Metern geht ein Feldweg rechts ab, den fährst du rein. Die Kollegen sind schon vor Ort.«
»Alles klar.« Pia beendete das Gespräch, zog den Ehering vom Finger und legte ihn in die Küchenschublade.»Wir sehen uns später.«
***
Wie so oft hatte Pia keine Ahnung, was sie am Leichenfundort erwarten würde. Der KvD von der Wache hatte sie lediglichüber den Fund einer weiblichen Leiche in Niederhöchstadt informiert, als sie Bescheid gegeben hatte, dass sie unterwegs war. Kurz hinter dem Ortsausgang bog sie rechts in einen asphaltierten Feldweg ein und sah schon von weitem einige Streifenwagen und ein Rettungsfahrzeug. Beim Näherkommen erkannte sie den blauenVW<