: Paul Collier
: Exodus Warum wir Einwanderung neu regeln müssen
: Siedler
: 9783641151256
: 1
: CHF 10.80
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 320
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wohl kaum eine Frage wird heute so heftig debattiert wie die der Einwanderung. Dürfen wir Menschen an der Grenze abweisen und sie wieder in ihre Heimatländer zurückschicken, auch wenn dort Armut und Hunger herrschen? Einwanderungspolitik, schreibt Paul Collier, ist bislang eine Mischung aus viel Emotion und wenig Wissen. In seinem neuen Buch zeigt er, warum es sich lohnt, einen völlig neuen Blick auf die weltweite Migration zu werfen.

Wer darf ins Land kommen und wer nicht? Profitieren wir von der Einwanderung – oder hilft der Massenexodus nur den Migranten selbst? Paul Collier erforscht, welche Kosten und welchen Nutzen die weltweite Migration mit sich bringt: für die aufnehmenden Ländern (vor allem Europa und die USA), für die Einwanderer selbst und für jene Länder, die die Migranten zurücklassen. Vor allem diese Staaten, die oft zu den Ländern der „ärmsten Milliarde“ gehören, müssen wir im Blick behalten, so Collier, wenn wir über die Gewinner und Verlierer von Migration sprechen. Nur so wird es möglich sein, neue, gerechte Einwanderungsregeln zu finden, von denen möglichst viele Menschen profitieren und die keiner Gesellschaft schaden.

Paul Collier, geboren 1949 in Sheffield, ist einer der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart. Er war Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank und lehrt als Professor für Ökonomie an der Universität Oxford. Seit vielen Jahren forscht er über die ärmsten Länder der Erde und untersucht den Zusammenhang zwischen Armut, Kriegen und Migration. Sein Buch »Die unterste Milliarde« (2008) sorgte international für große Aufmerksamkeit und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Lionel Gelber Prize und der Corine. Im Siedler Verlag erschienen außerdem »Gefährliche Wahl« (2009), »Der hungrige Planet« (2011), »Exodus« (2014) - eines der wichtigsten Bücher zur Migrationsfrage - sowie »Gestrandet« (2017, mit Alexander Betts). Sein Buch »Sozialer Kapitalismus!« wurde 2019 mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien »Das Ende der Gier« (2021, mit John Kay).

1 Das Migrationstabu

DIE MIGRATION ARMER MENSCHEN in reiche Länder ist ein mit vergifteten Assoziationen überladenes Phänomen. Dass in den Ländern der untersten Milliarde weiterhin Massenarmut herrscht, ist eine Schande für das 21. Jahrhundert. Angesichts des Wohlstands anderswo auf der Welt zieht es viele junge Menschen aus diesen Gesellschaften fort. Manchen von ihnen gelingt es, auf legale wie auch illegale Weise. Jede einzelne Auswanderung ist ein Triumph des menschlichen Geistes, des Muts und des Erfindungsreichtums, die nötig sind, um die von den ängstlichen Reichen errichteten bürokratischen Barrieren zu überwinden. Aus dieser emotionalen Perspektive betrachtet, ist jede andere Einwanderungspolitik außer derjenigen der offenen Tür bösartig. Doch die Migration kann man auch als selbstsüchtig bezeichnen, denn wenn Arbeiter denjenigen den Rücken zuwenden, die von ihnen abhängig sind, und die Tatkräftigen die Schwächeren ihrem Schicksal überlassen, dann ignorieren sie die Verantwortung für andere, die unter noch verzweifelteren Umständen leben. Aus dieser emotionalen Perspektive gesehen, darf die Migrationspolitik die von den Migranten unbeachteten Folgen der Auswanderung für die Zurückbleibenden nicht aus dem Blick verlieren. Schließlich kann die Migration sogar als umgekehrter Imperialismus verstanden werden, als Rache der einstmals Kolonisierten. Migranten bilden in den Aufnahmeländern Gruppen, die ursprünglich den einheimischen Armen zur Verfügung stehende Ressourcen abzweigen, mit ihnen konkurrieren und ihre Werte untergraben. Aus dieser wiederum emotionalen Perspektive betrachtet, muss die Migrationspolitik diejenigen schützen, die am Ort bleiben. Die Migration ist ein emotionsgeladenes Thema, doch emotionale Reaktionen auf vermeintliche Folgen können die Politik in jede Richtung lenken.

Noch bevor es zu einer Analyse der Migration kam, wurde sie politisiert. Der Umzug von Menschen aus armen in reiche Länder ist ein einfacher ökonomischer Vorgang, allerdings mit komplexen Folgen. Die staatlichen Maßnahmen hinsichtlich der Migration müssen diese komplizierten Aufgaben bewältigen. Gegenwärtig gibt es in der Migrationspolitik der Herkunfts- wie auch der Aufnahmeländer erhebliche Unterschiede. Manche Herkunftsländer fördern die Auswanderung und halten aktiv die Verbindung zu ihren Diasporagemeinden aufrecht, während andere ihre im Ausland lebenden Bürger als Abtrünnige betrachten. Die Einwanderungszahlen in den Aufnahmeländern unterscheiden sich erheblich: Japan ist eines der reichsten Länder der Welt, für Einwanderer jedoch praktisch unzugänglich. Dubai stellt die andere Seite dar, es zählt mittlerweile ebenfalls zu den reichsten Ländern der Welt, hat aber, um dies zu erreichen, derart viele Einwanderer ins Land geholt, dass sie heute 95 Prozent der Bevölkerung stellen. Auch was die Einwanderer selbst betrifft, bestehen große Unterschiede; für Australien und Kanada beispielsweise ist eine gute Ausbildung weitaus wichtiger als für die Vereinigten Staaten, die wiederum bedeutend anspruchsvoller sind als Europa. Außerdem unterscheiden sich die Rechte von Einwanderern von Land zu Land, von rechtlicher Gleichheit mit den Einheimischen, einschließlich des Rechts, Verwandte nachzuholen, bis zum Status von Vertragsarbeitern. Ebenso unterschiedlich sind die Vorschriften, die Einwanderern auferlegt werden, von der Beschränkung auf bestimmte Wohnorte und der Verpflichtung, die Sprache des Aufnahmelandes zu erlernen, bis hin zur Freiheit, sich in Gruppen mit ein und derselben Sprache zusammenzufinden. Einerseits wird die Assimilation gefördert, andererseits die kulturelle Verschiedenartigkeit erhalten. Ich kenne kein anderes Gebiet der Politik, auf dem die Unterschiede derart deutlich hervortreten – stellt das eine durchdachte Reaktion auf unterschiedliche Umstände dar? Ich bezweifle es. Weit eher vermute ich, dass die Irrungen und Wirrungen der Migrationspolitik auf eine giftige Mischung aus aufgestachelten Gefühlen und verbreitetem Unwissen zurückzuführen sind.

In der Auseinandersetzung über die Migrationspolitik wird viel häufiger über konkurrierende Werte als über widersprüchliche Tatsachen gestritten. Werte können eine Analyse jedoch sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. Positiv wirken sie insofern, als normative Beurteilungen, ob nun über die Migration oder ein anderes Thema, nur möglich sind, wenn man sich über seine Werte im Klaren ist. Aber es gibt auch eine negative W