: Madeleine Bourdouxhe
: Auf der Suche nach Marie
: edition fünf
: 9783942374644
: 1
: CHF 10.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Frankreich vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs: Marie ist dreißig, glücklich verheiratet, von ihren Freundinnen beneidet, weil sie die Einzige sei, die ihren Mann aus tiefstem Herzen liebe. Doch bei einem Urlaub am Meer entdeckt sie, dass ihr diese Liebe nicht reicht. Zu oft fühlt sie sich innerlich einsam. Eines Nachmittags am Strand fällt ihr Blick auf einen jungen Mann. Sie fühlt sich zu dem zehn Jahre Jüngeren hingezogen, und er sich zu ihr. Sie beginnen eine Affäre. Marie empfindet dies weder als Verrat an ihrer Ehe noch als Grund, sich von ihrem Mann zu trennen. Ohne Reue genießt sie ihre erwachte Sinnlichkeit und genießt es, sich in ihr neu kennenzulernen. Mal distanziert beobachtend, mal mit großer emo­tionaler Nähe, immer präzise und zartfühlend, zeichnet Madeleine Bourdouxhe die Psyche einer glücklichen modernen Frau jenseits der Konven­tionen.

Madeleine Bourdouxhe (1906-1996) war Belgierin mit engem Bezug zu Frankreich, die sich im Zweiten Weltkrieg in Brüssel der Résistance anschloss. Ihr Werk wurde durch die Geschicke des Krieges fast vergessen. Erst mit der Wiederveröffentlichung ihrer Romane 1985 bei Gallimard wurde sie berühmt und zählt heute zu den wichtigen ­Stimmen der französischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

1|»Marie, bist du fertig?«

Ungeduldig stieß Jean die Schlafzimmertür auf. Marie wandte sich brüsk vom Fenster ab und zog geschäftig die Vorhänge zu.

»Ja, ich bin fertig… es ist besser, wenn die Vorhänge zu sind, bei dieser Hitze.«

»Ich warte schon seit einer halben Stunde auf dich.«

Sie sah Jeansärgerliches Gesicht und folgte ihm wortlos.

Marie hatte sich nicht einmal mehr gekämmt. Als sie ins Schlafzimmer gekommen war, hatte sie durch das geöffnete Fenster auf das Meer hinausgesehen und ein Boot entdeckt. Sie war zum Fenster gegangen, um es besser sehen zu können, hatte den Kopf an den Fensterrahmen gelehnt und war einfach so stehengeblieben. Mit lautem Knattern war der alte Autobus, der das Dorf anfuhr, vorbeigekommen, ein Motorboot hatte mit ohrenbetäubendem Lärm angelegt, eine Gruppe Kinder war schreiend zum Hafen hinuntergelaufen. Das Schiff, das anfangs Maries Aufmerksamkeit erregt hatte, war inzwischen längst außer Sichtweite, und es war wieder still geworden. Vom Boden her stieg ein leichter harziger Geruch auf.

Außer ihnen war niemand im Treppenhaus. Marie legte liebevoll den Arm um Jeans Schultern.

»Bist du mir böse?«

Im Erdgeschoss blieb sie einen Moment vor dem Spiegel im Flur stehen:»Ist wenigstens meine Frisur in Ordnung?«

Der Knoten war etwas nach unten gerutscht, und die braune Strähne hing ihr, wie schon vorhin, viel zu tiefüber die rechte Schläfe herab.

»Ja. Du hast zwar lange gebraucht, aber du siehst gut aus.«

Sie sagte nichts darauf. Er hatte sie nicht einmal angesehen… Wahrscheinlich hatte er es so eilig, aus dem Haus zu kommen, dass er gar nicht richtig hingeschaut hatte. Aber schließlich hatte sie ihn ja auch eine halbe Stunde warten lassen.

Als sie das Haus verließen, sagte Marie:»Wie schön die Sonne scheint! Besseres Wetter könntest du zum Baden gar nicht haben.«

»Möchtest du denn nicht baden?«

»Ich weiß noch nicht. Ich werd’s dir sagen, wenn ich das Wasser gesehen habe.«

»Das sagst du immer, und dann badest du doch nie.«

Die Straße ist weiß, ausgetrocknet, ohne Schatten. Sie gehen, ohne miteinander zu sprechen, in die Hitze hinaus und auf die andere Straßenseite. In der Sonne ist Maries Kleid etwas durchsichtig, so dass sich ihre langen, sanft gerundeten Beine unter dem Stoff abzeichnen. Das Licht bringt alle Farben in ihrem Haar zum Leuchten: Kastanienbraun, Rot, Blond. Ab und zu blinzelt sie mit den Augen oder runzelt die Stirn und hebt schützend ihre großen, schönen Hände vors Gesicht.

Sie kommen zu einem schmalen, von Zypressen gesäumten Weg, der zum Meer hinunterführt. Dicht nebeneinander gehen sie auf der rechten Seite des Wegs im mageren Schatten der jungen Bäume. Maries Haar hat jetzt wieder einen einheitlicheren Farbton, ihr Gesicht entspannt sich, und man kann ihre Augen besser erkennen, den abwesenden Blick, der die Dinge mit Gleichgültigkeit zu betrachten scheint. Auf einmal endet der Weg. Eröffnet sich auf einen Strand, und plötzlich stehen sie wieder im gleißenden Sonnenlicht.

Als sie Seite an Seite im Sand saßen, zog Jean seine Sandalen aus.

»Warte lieber noch ein bisschen, bevor du ins Wasser gehst«, sagte Marie.»Es ist noch zu kurz nach dem Mittagessen.«

Er wandte sich zu seiner Frau um und sah i