Wir fahren heute weit weg
Zieht euch an! Zieht so viel an, wie ihr übereinander tragen könnt. Unterhemden, Strümpfe, Pullover, Hosen, Kleider, alles zwei-, dreimal übereinander, vor allem die warmen Sachen«, befahl uns Mutter, als sie an jenem eiskalten Sonntagmorgen im Winter 1945 zu uns Kindern ins Zimmer kam. »Wir fahren heute mit dem Zug weit weg und kommen so schnell nicht wieder nach Hause.« Ich erschrak. »Warum denn?«, wollte ich wissen. »Fragt nicht, zieht euch an!« Dann ging sie, aber nicht wie sonst in die Küche, um den Ofen anzuheizen, sondern aus dem Haus. Ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Beunruhigt schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf. Wir fahren weg, aber wohin? Und Mutter war so anders heute, ernst und traurig. Wie fast immer in letzter Zeit war ich nachts mehrere Male aufgewacht und hatte sie in ihrem Zimmer räumen und herumlaufen hören. Nun wusste ich, warum. Sie hatte sich für die Abreise vorbereitet.
Es war Mitte Februar 1945. Der Himmel leuchtete blau, die schneebedeckten Beete vor dem Haus glitzerten in der Sonne, lauter kleine weiße Hügel und Mulden. Während die Kirchenglocken läuteten, zog ich mich hastig an: Unterwäsche, Wollstrümpfe, das grauweiß karierte Wollkleid, darüber den weinroten Wollpullover, den dunkelblauen Kleiderrock, meine festen braunen Schnürschuhe. Meine Hände zitterten und ich konnte vor Aufregung kaum atmen. »Das ist so unbequem, ich kann mich nicht bewegen«, stöhnte meine Schwester Hildegard, die sich mit den vielen Kleiderschichten mühte. Ihr drahtiger Körper war in die Stofflagen eingemummt. Sie sah aus wie eine wattierte Puppe. Ihre feinen blonden Haare waren zerzaust, die Haartolle war aufgelöst und hing ihr über die Stirn in das runde Gesicht. Gereizt zerrte sie an den Ärmeln, aus denen ihre kleinen Hände hervorstanden.
»Wo bleibt ihr denn?«, drängte Mutter, die soeben zur Haustür hereingekommen war und nach uns sah. Sie musterte uns kurz, ging zum Schrank und nahm für Hildegard und mich jeweils noch ein Kleid, für Klaus noch einen Pullover heraus. »Das zieht ihr darüber«, sagte sie und drückte uns die Kleidungsstücke in die Hände. Ich wollte nicht mehr. Mir war heiß und ich fühlte mich unangenehm eingeschnürt, wagte aber nicht zu widersprechen. Also zwängte ich mich in das dunkelblaue Hängerchen, dass die Nähte krachten. Dann half ich meinem kleinen Bruder Klaus, der noch immer in Unterwäsche dastand, beim Anziehen. Er war sechs Jahre alt und stumm vor Angst, bleich, seine Lippen bebten. Seine abstehenden Ohren schimmerten rosa im Gegenlicht der Februarsonne, die durch das Fenster schien. Der blonde Pony über den hoch weggeschorenen Haaren hing ihm in die Augen. Ich zog ihm zwei Paar Strümpfe an, ließ ihn in zwei Hosen steigen, zerrte sie an ihm hoch, ungeduldig, fieberhaft. Dann streifte ich ihm zwei Pullover über. Gepolstert mit den vielen Stoffschichten wirkte der kleine zierliche Junge unbeholfen und unförmig. Krampfhaft klammerte er sich an meiner Schulterfest, während ich vor ihm hockte und ihm die Schnürsenkel band. Er fing an zu weinen, weil ihn die Schuhe drückten.
Inzwischen packte Mutter Wäsche, Kleidung und Geschirr in den großen Lederkoffer und trieb uns an. »Schnell, schnell. Macht doch! Wir müssen noch die Tiere füttern.« Sie hatte einen karierten Schal um die dunkelblonden Haare geschlungen, wodurch ihre teigigen Wangen noch mehr hervortraten. Ihre blauen Augen blitzten entschlossen. Den fülligen Körper in mehrere Kleider und in Vaters grauen doppelreihigen Wollüberzieher eingepackt, ihr offenes Bein bis zu den Knöcheln dick bandagiert, so stapfte sie nach hinten in den Garten zu den Ställen. Ich lief hinterher. Wir stopften den Kaninchen Heu