: Wanda Jakob, Luisa Costa Hölzl
: Wenn der Hahn kräht Zwölf hellwache Geschichten aus Brasilien
: edition fünf
: 9783942374613
: 1
: CHF 10.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Brasiliens Autorinnen melden sich zu Wort: In zwölf hellwachen Geschichten erzählen ihre Stimmen von Liebe und Verstrickungen, Tradition und Moderne, Macht und Unterdrückung, Geld und Armut, Glaube und Hoffnung in einer Gesellschaft im Aufbruch: Eine Frau frisiert ihre Lebensgeschichte, um sich für eine Fernsehshow interessant zu machen, eine andere exhibitioniert sich mitten auf der Autobahn. Eine alte Frau bereitet sich stolz auf ihren Tod vor und begleicht offene Rechnungen mit den Menschen ihrer Umgebung, eine einstige Guerillakämpferin beerdigt einen Kampfgenossen. Ein jüdisches Mädchen wird durch ihre Träume zur leidenschaftlichen Köchin, eine Schülerin verschreckt den Anbeter des Hausmädchens, und im Krankenhaus entdeckt eine Bibliothekarin ihre Sympathie für Frauen aus einfachen Schichten. All das und vieles mehr umfasst diese junge und selbstbewusste Geschichtensammlung mit gnadenlos scharfem Blick auf ein Land der Gegensätze, bei allen Härten. Ein Buch voller Überraschungen, Witz und Humor, eigens zusammengestellt für die edition fünf! Mit Geschichten von: Andréa del Fuego, Tércia Montenegro, Cecilia Giannetti, Augusta Faro, Livia Garcia Roza, Beatriz Bracher, Ana Paula Maia, Cíntia Moscovich, Ivana Arruda Leite, Tatiana Salem Levy, Paula Taitelbaum, Claudia Lage

Luísa Costa Hölzl, geboren 1956 in Lissabon, ist Dozentin für Portugiesisch und ­Publizistin. Wanda Jakob, geboren 1976 in München, hat bei Luísa Costa Hölzl ­gelernt und ist Literaturübersetzerin und freie Lektorin. Seit einigen Jahren entwickeln die beiden gemeinsam für Lusofonia e.V. Projekte zur Förderung und Verbreitung ­portugiesischsprachiger Kulturen und veranstalten regelmäßig Lesungen in München.

Tatiana Salem Levy


Vertane Zeit


Lúcia vergewissert sich, dass ihr Mann weggefahren ist, bevor sie im Schrank des Dienstbotenzimmers den Koffer mit den Fotos und den Briefen von André sucht. Gleich nach dem ungewöhnlichen Anruf vor einer Woche hatte sie um einen freien Tag gebeten. Sie hatte gerade die Wohnung verlassen wollen und die Tür schon geöffnet, als sie das beharrliche Klingeln des Telefons hörte. Am anderen Ende der Leitung fragte eine vage vertraute Stimme nach ihr, die sie aber nicht identifizieren konnte. Gleich darauf verkündete sie:

»Wir werden André beerdigen.«

André beerdigen? Die Ankündigung hallte in Lúcias Kopf nach wie das leise Rauschen der Wellen nach einem Nachmittag am Meer. Ein einziger Satz und die Zeit hörte auf zu existieren, als wären die fast vierzig Jahre, die Andrés Tod von diesem Morgen trennten, an dem sie einfach zur Arbeit gehen wollte, ein leerer Raum. Ein Vakuum zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die sich in dem energisch geäußerten Satz trafen. Lúcia ist nicht mehr zwanzig, und fast nichts in ihrem Leben oder an ihrem Körper lässt die junge Frau ahnen, die sie einmal war. Erst dieser Satz konnte wieder an die Oberfläche bringen, was sie lange Jahre als Geheimnis gehütet hatte.

»Aber… Hat man denn seinen Leichnam gefunden?«

Die Beerdigung war auf zwölf Uhr angesetzt. Es hatte viele Jahre gedauert, bis Andrés Familie vor Gericht eine Entschädigung erlangt hatte. Das Fehlen des Leichnams, von Fotos und Dokumenten erschwerte den Prozess: Außer der Gewissheit seiner Verwandten gab es keine handfesten Beweise. Viele Beweise lagen in Archiven mit sieben Siegeln verborgen. Trotz der Hindernisse wurde er schließlich als Verschwundener anerkannt. Der brasilianische Staat hatte sich zur Schuld bekannt, und nun hatte sich Andrés Familie entschlossen, ihn ohne Leichnam zu beerdigen.

Der harte Lederkoffer ist alt und eingestaubt. Lúcia hat zuletzt vor zweiundzwanzig Jahren hineingeschaut, als sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in das Appartement am Botanischen Garten zog, in dem sie bis heute leben. Im Koffer ruht eine blaue Schachtel mit weißen Punkten, ein Geschenk von André. Die vergilbten Fotos obenauf zeigen eine zierliche Lúcia, anders als die Lúcia von heute, und einen energischen, hübschen André. Unter den Fotos liegen seine Briefe, die Zettelchen, Liebeserklärungen auf zerschlissenem Papier. Sie stülpt die Schachtel um, breitet Fotos und Briefe auf dem Boden aus, gespannt, ob sie finden wird, was sie sucht: ein Amulett in der Form eines Auges, das André nicht mehr abgelegt hatte, seit seine Großmutter es ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Das Amulett, das Lúcia an jenem unseligen Tag trug, an dem das Schicksal ein einziges Mal zynisch ihre Rollen vertauschte. Für immer.

Lúcia und André hatten sich schon auf dem Gymnasium kennengelernt, dem Colégio Pedro II im Zentrum. Sie waren fünfzehn und entdeckten gemeinsam die Liebe und die Politik. Lúcia war eine politisch engagierte Jugendliche. Schon als sie noch klein war und nach dem Staatsstreich das Gemurmel ihrer Eltern hörte, die gegen das Regime waren, hatte sie beschlossen, etwas für die Zukunft des Landes zu tun. Sie engagierte sich zunächst in der Schülervertretung, bis sie sich schließlich von einem Freundüberreden ließ, der Kommunistischen Partei beizutreten. Dahin nahm sie André mit, der am Anfang nur ein verliebter Junge war, sich aber bald ebenso für die politischen Fragen interessierte wie sie. Nach der Spaltung der Partei wechselten sie zur Nationalen Befreiungsbewegung ALN, bereit, mit Waffen gegen die Diktatur zu kämpfen.

Waffen? Manchmal fragten sie sich, ob das die beste Lösung war. Und wenn wir besiegt werden? Und wenn wir umkommen? Und wenn? D