Das Elend kommt immer überraschend. Jedenfalls ist es bei mir so. Ekelhaft selbstbewusst steht der ungebetene Besuch dann vor der Tür, hübsch zurechtgemacht wie für den Sonntagsspaziergang. Wenn mein Elend eine Gestalt hätte, dann käme es als kleines Mädchen mit langen blonden rot beschleiften Zöpfen und einer Zahnspange daher. Immer genau dann, wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann. Aber das ist nur meine Meinung, und die interessiert das Elend nicht. Die Kleine würde gehäkelte Strümpfe an dünnen Beinen tragen, die sich an den Knien fast berühren. Ihr Blick träfe mich mitten ins Herz; sie würde ihre schmalen Brauen über den viel zu großen leuchtenden Augen kummervoll zusammenziehen und mir dann in einer blitzschnellen Bewegung ihren Ranzen auf den Kopf hauen. Peng. All ihre Schulbücher würden wie dicke Wackersteine die Treppe vor meiner Tür hinunterpurzeln, und während ich langsam zu der Erkenntnis käme, dass das Elend wieder da ist, würde das unwirkliche Kind summend an mir vorbeischlüpfen, in mein Wohnzimmer hopsen und sich apfelkauend auf mein Sofa lümmeln. Und während ich gegen die Tränen ankämpfte, würde mir das Elend frech ins Gesicht grinsen und dabei mit Fistelstimme wispern:
»Da bin ich also. Und so schnell wirst du mich nicht wieder los.« Und dann würde dieses Monstrum dort sitzen bleiben, einen ganzen Monat lang oder noch länger, und würde mich dabei beobachten, wie ich mich entliebe.
Jeder Mensch hat sein persönliches Elend, und ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, wenn all diese Coaches in Sachen Liebeskummerbewältigung auf einer Gartenparty Small Talk hielten, bei Gin Tonic und Erdnussflips. Mein brav gescheiteltes Elend würde lachend die Geschichte zum Besten geben, wie sie beim letzten Mal Woche um Woche auf meinem Sofa gesessen und mich gequält hat. Dann würde es kokett die Zöpfe zurückwerfen, die Schultern straffen, einen Schluck Gin Tonic nehmen und den Anwesenden mit einem der Zahnspange geschuldeten Lispeln über meine verzweifelten Versuche berichten, wie ich es loswerden wollte, wie ich ihm zu entkommen versuchte und wie ich gescheitert war. Wieder und wieder. Und die anderen Elendsgestalten würden sich biegen vor Lachen, sie würden ihre eigenen Erlebnisse pikanten Anekdoten gleich zum Besten geben und letztendlich und nach dem dritten Gin Tonic höchst amüsiert konstatieren, dass der Mensch nicht dazulernt. Obwohl, es gibt Ausnahmen. Wie ich gerade schon sagte, kommt das Elend ohne Vorwarnung. Ich saß an diesem bis dahin vollkommen unspektakulären Dienstag an meinem Schreibtisch und suchte in der riesigen Schublade dieses Erbstücks nach meinem Füller – manche Briefe schreibe ich nur mit Füllfederhalter –, als es an der Tür klingelte. Das hört sich trivial an, ist es bestimmt auch, aber was dann geschah, verdient es, erzählt zu werden. Also es war Dienstag, es klingelte, ich öffnete, Alex stand im Türrahmen, seine schwarzen Haare glänzten von Haargel. Er sah mich an, und für den Bruchteil einer Sekunde war ich irritiert. Das war nicht DER Blick. Nicht sein Blick. Das war neutral. Nulllinie. Hirntod. Schlimmer. Da war nichts. Absolut gar nichts. Dieser Blick war schlichtweg – kameradschaftlich. Mit einer eleganten Bewegung schob er sich in den langen Flur, er kam mir dabei nah genug, um mich seinen Duft wittern zu lassen. Meine Nase ist ganz hervorragend, und ich mache mir oft einen Spaß daraus, Parfüms zu erraten. Ich irre mich fast nie. Das hier war Creed Platinum, unverkennbar. Wie ein Faustschlag traf mich die Erinnerung. Parfümflasche in Hotelbadezimmer. 100 ml, big size. Elf Stockwerke unter uns die tobende Großstadt vor rot glühendem Nachthimmel. Ich am Abschminken. Sein Gelschopf im Türrahmen. Breites Grinsen, Lust. Suchende Hände. Großer Spiegel, helle Fliesen, noch helleres Licht. Er hinter mi