: Thomas Ballhausen
: In dunklen Gegenden
: Edition Atelier
: 9783903005624
: 1
: CHF 8.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 104
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Erzählungen aus einer fantastischen Welt am Rande des Abgrunds, in der sich vor einem apokalyptischen Hintergrund die intimen Dramen der Verzweifelten, der Verachteten und der Verliebten entfalten. »Mit seinem Ansatz, anspruchsvolles Schreiben in klassische Unterhaltungsgenres zu schmuggeln, reiht Thomas Ballhausen sich unter ebenso große wie verdienstvolle Namen.' (Hanno Millesi)

1975 in Wien geboren. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Wien. Autor, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Filmarchiv Austria und Lektor an der Universität Wien. Literarische Veröffentlichungen in Zeitschriften (u.a. Kolik, Krachkultur, Lichtungen) und Anthologien (u.a. »Zum Glück gibt's Österreich', Wagenbach). Zahlreiche Buchpublikationen, zuletzt in der Edition Atelier: »Lob der Brandstifterin'.

I. Sommerquartier


»Wer im begrenzten Bereich lebt, verlangt inbrünstig nach Besitz, nach Zugang zum Absoluten.«

E. M. Cioran

»Menschliche Angelegenheiten sind im Grunde tragikomisch, sie sind es stets gewesen.«

George Steiner

 

Natürlich erinnere ich mich an den letzten Sommer vor dem Ende des Kriegs mit den Eisenmännern. Es war ein Sommer der finalen großen Schlachten, der Sommer des letzten Jahres der alten Zeitrechnung, es war ein Sommer, der diese Bezeichnung nachträglich gesehen tatsächlich auch verdient hat. Es war also während dieses magischen,überdurchschnittlich heißen und hektischen Sommers vor etlichen Jahren, als wir das leer stehende Haus am Ende der Straße endlich für uns entdeckten. Es erscheint zum jetzigen Zeitpunkt etwas eigenartig, doch ich erinnere mich auf eine Art und Weise an diese Ereignisse, als hätte man sie mir bei einem Glas Bier oder einer Tasse Kaffee erzählt, als wären es Erlebnisse aus der Jugend anderer Leute, die ich gekapert, die ich mir angeeignet habe. Ich träume immer noch von diesen Ereignissen, die ich hier bloß kursorisch, nur in Form einesÜberblicks wiedergeben kann. Würdest Du mit jemand anderem sprechen, der damals dabei war, würdest Du wahrscheinlich eine ganz andere Sicht der Dinge, eine gänzlich andere Geschichte erzählt bekommen. Vielleicht findet sich noch jemand aus unserer Bande, dann kannst Du die Darstellung der Ereignisse ja vergleichen. Ich sage ganz bewusst Bande, denn nichts anderes waren wir: eine Bande aus Kindern, die es nicht zur Band gebracht hatten, dafür waren wir einfach zu unmusikalisch gewesen. So entschieden wir uns eben für das Nächstliegende, für eine Bande und für eine Zeit der aufgeklebten Schnurrbärte, der falsch verstandenen Songtexte, während vor unser aller Augen die Wirklichkeit endgültig verloren ging. Eine Bande war damals gar keine große Sache, schließlich kümmerte sich im Durcheinander jener Tage niemand wirklich um uns. Alle hatten andere, vorgeblich ernsthaftere Probleme. Wir spürten, gefangen imÜbergang zwischen Kindheit und Jugend, nur die Ewigkeit– nichts, so machte es den Anschein, würde jemals enden. Und trotzdem verhielt sich der Großteil der Stadtbewohner so, als wären ihre Tage bereits abgezählt worden.

Wie also betritt man eine Zeit, die man angeblich hinter sich gelassen hat? Die Erfahrungen dieses Sommers kann ich nur auf Umwegen wiederherstellen. Was kann ich also anderes tun, als einen Text zu schreiben, der den eigentlichen Ereignissen nicht nahekommt? Könnte ich eine Karte dieser Tage zeichnen? Erst vor Kurzem habe ich mit Notizen zu einer für mich notwendig gewordenen Erklärung begonnen, habe Skizzen angelegt, weil es kaum noch Material gibt, auf das ich zurückgreifen kann. Ich schreibe, sammle und sortiere, um zu verstehen, was ich vergessen habe. Der offiziellen Geschichtsschreibung vertraue ich nicht, ich will die Vergangenheit lieber in einer anderen, vielleicht verlässlicheren Form herstellen. Aus den geträumten Fragm