Zwei
Wir durften die Rollos hochziehen. Die Sonne streifte von hinten auf die Tragflächen. Kein Zweifel an der Flugrichtung. Graue Wolkengebilde vor der Himmelsfläche aus tiefem, immer blauer werdendem Blau. Vor uns im Osten die Wand der Nacht mit rasch wechselnden Farben, blausilbergrau, lilagrau, über allem für einige Minuten der letzte rötliche Schimmer. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich in dieser Nacht nicht mehr nach Hause kommen würde, nicht einmal bis Frankfurt.
Eine Stimme im Lautsprecher, der Kapitän nannte seinen Namen, Lothar Krüger, und bat darum, die Gurte anzulegen. Im gleichen Moment blitzte es hinter den Fenstern. Wie angenehm, die Arme bewegen zu dürfen! Wie angenehm, eine väterliche, deutsch sprechende Stimme zu hören! Genüsslich langsam tat ich die vorgeschriebenen Handgriffe. Ein zweiter Blitz erhellte das Fensteroval. Ohne spürbare Abweichung flog die Maschine, immer geradeaus. Die Blitze kamen häufiger, ich meinte, den Donner zu hören, der sich gegen den Triebwerklärm freundlich grummelnd abhob. Wir streifen eine Gewitterfront, die Stimme des Kapitäns beruhigte eine Weile. Doch dann begann die Maschine zu schlingern, sie wackelte, taumelte durch den Sturm. Obwohl ich wusste oder mir einbildete zu wissen, dass Flugzeuge und ihre Insassen vor Gewittern sicher sind, kroch ein neues Gefühl durch den Körper, das aus dem Rhythmus der Flugzeugbewegungen kam, aus dem kurzzeitigen Absacken, dem trügerischen Aufgefangenwerden, dem Vibrieren der Verschalung der Handgepäckfächer über den Köpfen und dem Knistern in den angeblich festen Stahlgelenken: der Absturz wird ganz plötzlich kommen. Die überraschende, nicht wegzuschiebende Gegenwart dieser Gefahr machte die Frauen und Männer, die uns in Gewalt hielten, immer unwichtiger, puppenhafter, sosehr sie sich anstrengten, ihre Heldenrolle durchzuhalten und sogar während des Gewitters aufrecht im Gang stehend eine imposante Figur abzugeben. Ein verrücktes Ende wird das, im Gewitter hinabstürzen ins Meer samt den Entführern, so wird es ausgehen, es wird keine Sieger geben und keine Verlierer, wir werden einfach aufs Meer schlagen, banal und eklig wird es enden! Ersoffen und aufgefressen wir alle, Freund und Feind, Mann und Frau und Kinder als Fischfutter vereint! Ich klammerte die Augen an das SchildLIFE JACKET UNDER YOUR SEAT, es schien mir ganz unglaublich, dass es nochLIFE JACKETS geben sollte. Die Entführer werden so dumm sein, uns, wenn wir in die Tiefe rauschen, nicht einmal die Schwimmwesten anlegen zu lassen, sie werden lieber mit uns untergehen, bis zur letzten Sekunde mit ausgestreckten Handgranatenfäusten, und wir mit den leeren, zu keiner Schwimmbewegung mehr fähigen Armen!
Wie legt man diese Westen an? Wieder hatte ich beim Start nicht aufgepasst. Wann muss man an welcher Schnur ziehen, nicht zu früh, nicht zu fest in diesem gelben Ding zappeln? Ungeschickt und hastig machte ich die falschen Handgriffe im falschen Moment, alle hatten die Weste schon an, nur ich nicht, alle warteten auf mich, endlich lag mir das kalte Gummi an Hals und Brust, ich wurde getragen und sah mich im Wasser schaukelnd und gleichzeitig Rainer auf dem Bahnsteig in Stuttgart. Der Zug lief pünktlich ein, Rainer suchte und sortierte die Frauen schon von weitem, die Figuren, die Haare. Ich schnappte mühsam nach Luft, unfähig zu schreien. Er rannte ein paar Schritte, meinte mich weit vorn zu sehen, aber es war doch eine andre. Die Wellen nahmen mir immer wieder die Sicht. Alle Leute, die sich begrüßten und küssten, waren ihm im Weg, der Bahnsteig wurde allmählich überschaubar, und Rainer dachte zum ersten Mal, keine Andrea, sie hat den Zug verpasst, wo ist Andrea? Ich schwamm durch den Bahnhof, erreichte ihn fast, sah ihn zur Halle zurücklaufen, und an der Stelle, wo früher die Sperren waren, hielt er Ausschau, in alle Richtungen. Ich schwamm ihm nach, die Weste erlaubte keine zügigen Bewegungen, Rainer fuhr sich aufgeregt über die Stirn, er wollte es nicht wahrhaben, dass ich nicht aus dem angekündigten Zug gestiegen bin. Erwarte nur dich,18 Uhr 51, so stand es im Telegramm, Erwarte nur dich. Salzwasser spuckte