: Franz Dobler
: Ein Bulle im Zug Roman
: Tropen
: 9783608107227
: 1
: CHF 8.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 347
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Deutscher Krimi Preis 2015 Kriminalhauptkommissar Fallner hat bei einem Einsatz einen jungen Kriminellen erschossen. Jetzt ist er dienstunfähig. Fallner nimmt den Rat seiner Therapeutin an und verwirklicht seinen Jugendtraum: Mit einer Bahncard100 so lange Zug fahren, wie er Lust hat. Auf die Tour will er auch endlich den toten Jungen aus dem Kopf kriegen. Deutschen Krimi Preis 2015 Was an dem Abend, an dem der Junge erschossen wurde, genau passiert ist, kann keiner mehr sagen. War es Notwehr? Wo ist die Waffe des Jungen? Und warum kann sich keiner mehr an etwas erinnern? Fallner muss einfach mal raus aus München. Weg von dem toten Jungen, der ihn permanent in seinen Gedanken verfolgt. Es beginnt eine ziellose Reise durch Deutschland. Franz Dobler schafft es mit einem ihm eigenen Sound, das Porträt eines Polizisten im Zug nach nirgendwo zu zeichnen. Spannend, humorvoll und angenehm unangestrengt.

Franz Dobler lebt in Bayern und hat seit 1988 neben Romanen und Gedichtbänden, für die er u. a. mit dem Bayerischen Literaturförderpreis ausgezeichnet wurde, auch Erzählungen und Musikbücher veröffentlicht. Für seine Kriminalromane Ein Bulle im Zug und Ein Schlag ins Gesicht erhielt er jeweils den Deutschen Krimi Preis. Letzterer wurde von Nina Grosse als Nicht tot zu kriegen mit Iris Berben und Murathan Muslu verfilmt.

Fuck off, Albträume


Vor dreiundvierzig Jahren war er auf die Welt gekommen, vor zweiundzwanzig Jahren in die Stadt, vor acht Jahren zum ersten Mal in Jaqueline, vor drei Monaten hatte er bei einem Einsatz den achtzehnjährigen libanesischen Gangster Maarouf in der Wohnung seiner Eltern erschossen, und es musste geklärt werden, ob er in Notwehr gehandelt oder eine fahrlässige Tötung begangen hatte, vor einem Monat hatte er sich eine 2. Klasse-Bahncard100 für viertausendneunzig Euro gekauft, und seitdem stand er fast jeden Tag am Balkonüber den Gleisen des Münchner Hauptbahnhofs oder kurvte irgendwo dort unten herum mit Rollkoffer und Umhängetasche und dem festen Vorsatz, sich irgendeinen Zug von der Anzeigetafel zu picken und loszufahren. Ziel unbekannt. Dauer der Reise ungewiss.

Einschränkungen: Deutschland verlassen verboten; die Fahrkarte war nur ein Jahr gültig.

Die Details sollten die Götter des Zufalls und des Schicksals regeln, falls diese Märchenonkel die Güte hatten, sich ausnahmsweise um einen problembeladenen Gesetzeshüter zu kümmern. Er hatte sich nur vorgenommen, mit der Fahrt nach Hamburg zu starten. Ob er dort in den Zug nach Mückenkiller oder Rostock oder in den ICE-Heimathafen stieg, würde sich ergeben.

Denn das war die Tür in der Wand vor ihm– er würde so lange fahren, umsteigen und weiterfahren, bis er seine Problemzone verlassen hatte. Ein Reinigungsritual: Heilung durch Bewegung, Perspektive durch Mobilität! Diese Dummheiten, die man aus einem Wartezimmer mitgenommen hatte, und dann war man zu schwach, um sie nicht mit Hoffnungen aufzutanken. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass das seine Chance war. Und seine Albträume sagten, dass es seine einzige Chance war, und wenn er sie nicht nutzte, würde er nie wieder eine andere bekommen.

Fuck off, sagte er zu den Albträumen.

Fuck off mit deiner Schnapsidee, sagte Jaqueline.

Es war wie immer nicht ausgeschlossen, dass sie richtig lag. Denn seit einem Monat schaffte er es nicht loszugehen, einzusteigen, abzufahren und den guten Plan in Angriff zu nehmen, obwohl sie ihn sein halbes Leben trainiert hatten, Entscheidungen schnell zu treffen und umzusetzen. Er hatte die Sehnsucht, endlich loszufahren, den Glauben, dass es ihm guttun würde, und stand dann am Bahnsteig und schaffte es nicht. Wusste nicht, warum, und konnte mit niemandem darüber sprechen, außer mit dem Doc, dem nichts dazu einfiel, außer ihn zu fragen, warum er sich damit unter Druck setze.

In diesem Verlierermonat war die Wut auf sich selbst so groß geworden wie die Wut auf den Jungen, der ihn gezwungen hatte, auf ihn zu schießen. Der am Tisch gesessen hatte und seine Waffe ziehen wollte. Dämlich genug zu glauben, die Bullen hätten Schiss vor ihm.

Dieser kaputte Drecksack, ohne den die Welt besser geworden war, brach jederzeit in seine Tag- und Nachtträume ein. Lachte sich kaputt, weil die Bullen die Waffe, die er angeblich ziehen wollte, nicht finden konnten–»damit sieht das aber nicht so günstig aus für deine tolle Notwehr-Geschichte, Herr Superoberkommissar«, zischte Maarouf in Fallners Träumen–, und arbeitete daran, den Mann, der ihn erschossen hatte, ebenfalls aus der Welt zu schaffen.

Und jetzt hatte er es fast geschafft.

Heute, hatte sich Fallner auf seinem Balkon geschworen, nachdem ihn seine Ehefrau, Kriminalhauptkommissarin Jaqueline Hosnicz, siebenunddreißig, verhöhnt hatte, musste es endgültig losgehen oder er würde seinen Kindheitstraum abhaken und alles aufgeben– und jetzt stand er wieder seit einer Stunde auf diesem Bahnhofsbalkon oder saß am Tisch mit einer Tasse Kaffee. Kotzte sich selbst an und betrachtete den Tumult unten am zentralen Platz im Bahnhof, wo die von drei Eingängen und den Gleisen kommenden Ströme aufeinandertrafen, begleitet von den Durchsagen, die sie zu dirigieren schienen, die Männer, an denen Frau und Kind zerrten, während es um Sekunden ging, und die Mädchen, die immer kleiner und dünner wurden, während ein Junge endlos lange auf sie zukam. Dazwischen Gestalten, die wie zu ihrer Hinrichtung schlichen, und andere, die vor der Anzeigetafel verharrten, als stünden sie in tiefster Einsamkeit auf einem Berggipfel. Und dort zwei Männer, die inmitten des Getümmels Mund an Ohr diskutierten. Waren garantiert nicht hier, um einen Zug zu nehmen, so wie die diskutierten und dabei mit Suchscheinwerfern ihre Umgebung beobachteten. Sondern möglicherweise, um jemanden abzuholen, der noch nicht wusste, dass er abgeholt wurde. Ein Kindersportwagen fuhr an ihnen vorbei, aus dem ein brüllendes Kind zu klettern versuchte, was nicht klappen konnte, weil die Mutter den