Prolog
August 1880
»Sie sehen aus, als hätten Sie’n Gespenst gesehen, mein Freund«, sagte Kapitän Michael McQuinn hinter dem großen Steuerrad des Schiffes. Die Bemerkung galt seinem Ersten Offizier, einem wettergegerbten Böhmen namens Poelzig, der teilnahmslos aus einem Steuerbordfenster des kleinen Ruderhauses starrte. Um sie herum erstreckte sich die perfekt flache Chesapeake Bay.
»Ein Gespenst«, murmelte Poelzig. Er fuhr sich mit seiner schwieligen Handübers Gesicht.»Hab ich letzte Nacht nicht viel geschlafen, Käpt’n, genau wie meine Frau. Und Sie?«
»Ach, ich hab geschlafen wie’n Baby«, behauptete McQuinn mit seinem irischen Akzent. Er klopfte lächelnd auf den Flachmann an seiner Seite.»Gibt keinen Grund, rastlos zu sein. Wir sind beide Einwanderer, die von diesem großartigen Land mit offenen Armen aufgenommen wurden, nicht wahr? Das Versprechen auf Freiheit und gute, ehrliche Arbeit. Wir sollten immer dankbar sein ...«
Das stimmte soweit. McQuinn war ein irischer Katholik und Poelzig ein Jude irgendwo aus Europa.Österreich?Wer weiß das schon nach all den verdammten Kriegen, dachte McQuinn. Poelzig und seine Frau Nanya waren vor der Judenverfolgung geflüchtet, während McQuinn sich vor Dublins Steuereintreibern und mehr als einem wütenden Ehemann in Sicherheit gebracht hatte. Aber soweit er bisher sehen konnte, hielt Amerika seine Versprechen.
Ja,das stimmte soweit, aber wasnicht stimmte, war Captain McQuinns Behauptung, er habe wie ein Baby geschlafen. Denn das hatte er ganz gewiss nicht. Sie waren jetzt seit zwei Wochen auf der Chesapeake Bay unterwegs. Von Baltimore aus hatten sie ihre Waren erst den Patuxent River hinauf nach Sandsgate geliefert, dann auf die andere Seite der Bay und den Nanticoke hinauf, anschließend in den Wicomico nach Salisbury. Und bei jedem Löschen ihrer Ladung in jeder Hafenstadtüberkam ihn ein immer merkwürdigeres Gefühl; und jede Nacht schlief er weniger und weniger.
Poelzig stierte immer noch müde ins Leere.»Gott, hab ich geträumt letzte Nacht ...«
McQuinns Kopf fuhr herum. Er starrte seinen mürrischen Mitarbeiter an.»Was haben Sie geträumt, Mann?«
Poelzig schüttelte nur den Kopf. Er musste um die 40 sein, aber im Moment sah er aus wie 80.
Allmächtiger! McQuinn hasste es, sich auf seine Autorität als Kapitän berufen zu müssen. Die meisten dieser Flusstouren liefen wie am Schnürchen– was war diesmal nur anders?»Irgendwas macht Ihnen zu schaffen, seit wir Baltimore verlassen haben«, ereiferte er sich,»und nach jedem Stopp wird’s schlimmer. Sie und Ihre bessere Hälfte nützen mir nichts, wenn Sie sich nicht auf Ihre Arbeit konzentrieren können. Also– was ist los? Was stimmt nicht?«
Dem sonst so selbstsicheren Ersten Offizier schienen die Worte zu fehlen. Er zeigte hinter sich, hielt den Blick aber auf McQuinn gerichtet.
»Was, das Frachthaus? Poelzig, wir haben nur noch einen Stopp, dann ist unsere Tour beendet!«
Poelzigs Stimme klang brüchig.»Ist Ziel, Sir, was Nanya und mir Sorgen bereitet.«
Grundgütiger! McQuinn nahm das Kursbuch und las den Bestimmungsort laut vor.»Lowensport, Maryland, elf Meilen Ost-Nordost am Brewer River. Was passt Ihnen denn nicht daran, dass wir da hinfahren? Ist nur’ne kleine Stadt mit’nem Sägewerk, wie ich gehört hab.«
Poelzig räusperte sich.»Mehr als das, Sir.«
»Hab vor dieser Tour noch nie was vom Brewer River gehört, aber der Hafenmeister sagt, er hat die ganze Strecke tiefes Fahrwasser und ist frei von Hindernissen. Und Sie wissen ja, dass dieWegener’n zähes altes Luder von Dampfschiff ist. Herrgott noch mal– wir werden schon nicht sinken!«
Poelzigs Miene blieb unverändert finster.»Meine ich Lowensport selbst, Sir.«
McQuinn kniff die Augen zusammen und beugte sich vor.»Sie und Ihre bessere Hälfte sind doch Juden, oder?«
»Sind wir, Käpt’n, und sind wir stolz drauf.«
»Na ja, ich weiß nichtsüber Ihren Glauben– und auch mächtig wenigüber meinen eigenen, wenn ich ehrlich sein soll– und von mir aus soll jeder glauben, was er will.« Die nächsten Worte sprach er mit besonderem Nachdruck.»Aber der Hafenmeister hat mir noch was gesagt, Poelzig. Er hat mir gesagt, dass dieser kleine Ort namens Lowensport vonJuden gegründet wurde. VonIhren Leuten, Poelzig!«
»Nicht ...unseren Leuten, Sir«, flüsterte Poelzig scharf.
Kapier das alles nicht, dachte McQuinn. Lieber nicht drüber nachdenken. Warum sollten sich zwei Juden wegen einer Stadt voller Leute, die an das Gleiche glaubten wie sie, in die Hosen machen?Das ist so, als hätte ich Angst zur Messe zu gehen.
Er schaute wieder hinaus auf die Bay, entdeckte die breite Mündung eines Flusses und warf einen Blick auf die Seekarte.»Was auch immer Sie daran so aufregt, Poelzig, stellen Sie’s fürs Erste hinten an, denn da vorn ist schon der Brewer River. Schätze, wir machen im Moment um die sechs Knoten; wenn wir flussaufwärts fahren, dürfte uns das höchstens auf drei zurückwerfen, also sollten wir nicht später als zwei Stunden nach Sonnenuntergang in Lowensport sein. Wir werden da die Nacht verbringen.«
Poelzig versteifte sich, als er einen Blick nach vorne warf und die breite Flussmündung sah. Dann ließ er sichtlich verzweifelt die Schultern hängen.»Käpt’n,