: Rudolf Hermann Lotze
: Medizinische Psychologie der Seele Von dem Dasein der Seele + Vom physisch-psychischen Mechanismus + Vom Wesen und den Schicksalen der Seele + Von den einfachen Empfindungen + Von den Gefühlen + Von den Bewegungen und den Trieben
: e-artnow
: 9788026820208
: 1
: CHF 1.80
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: Philosophie
: German
: 242
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieses eBook: 'Medizinische Psychologie der Seele' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Rudolf Hermann Lotze (1817-1881) war eine der zentralen Figuren der akademischen Philosophie des 19. Jahrhunderts und gehörte bis in die 1920er Jahre zu den bekanntesten und meist diskutierten Philosophen Deutschlands, der auch weltweit hohes Ansehen genoss. Im Vergleich zu den Protagonisten des deutschen Idealismus oder den bekannten Philosophen des 19. Jahrhunderts, die außerhalb der akademischen Tradition wirkten, ist er heute weniger bekannt. Lotze verkörperte in hohem Maße sowohl naturwissenschaftliche als auch philosophische Kompetenz. Er versuchte immer wieder sehr heterogene Interessen zu vereinbaren. Heute ist Lotze zwar weniger bekannt. In jüngerer Zeit erfahren Teile seiner Arbeiten allerdings wieder eine etwas höhere Wertschätzung. Sein hoher Einfluss auf die wissenschaftliche und philosophische Diskussion seiner Zeit nicht nur in Deutschland ist unbestritten. Seine medizinischen Studien waren Pionierarbeiten auf dem Gebiet der wissenschaftliche Psychologie.

ERSTES KAPITEL.
Von dem Dasein der Seele.


§. 1. Von den Gründen für die Bildung des Begriffs der Seele.

1. In unmittelbarer und unzweifelhafter Wahrnehmung ist es andern Wissenschaften vergönnt, den Gegenstand ihrer Untersuchung vor sich zu sehn; auf Pflanze, Tier und Stein kann die Naturgeschichte, wie auf festgezeichnete Bilder einer Allen in gleicher Weise zugänglichen Anschauungswelt verweisen. Mühseliger ist der Beginn der Psychologie. Schon in ihrem Anfang sehen wir unsüber Dasein und Begrenzung ihres Gegenstandes in einen Streit verwickelt, den zu unterhalten und zu verwirren stets die ganze Leidenschaftlichkeit der mannigfachen Vorurteile geschäftig war, die ein so großer Gegenstand, alle Interessen des menschlichen Lebens berührend, notwendig in Bewegung setzen mußte. Die Ereignisse, die wir dem Gebiete des geistigen Daseins zurechnen, alle jene Formen des Bewußtseins, der Empfindung und der Rückäußerung innerer Zustände, sind für uns stets nur in unauflöslicher Verbindung mit den gleich veränderlichen Zuständen des lebendigen Leibes Gegenstände einer wirklichen Beobachtung. Hätte die Bildung der Sprache sich begnügt, aus der Menge dieser verschiedenen und wandelbaren Ereignisse das Gleichartige und Entsprechende, unter dem Namen psychischer Erscheinungen vielleicht, zusammenzuziehen, so würde sie uns dadurch den tatsächlich vorhandenen Gegenstand einer möglichen Wissenschaft vorurteilslos bezeichnet haben. Aber vorahnend, wie immer, hat sie zugleich theoretisiert, und indem sie den Begriff der Seele schuf, eine große und wichtige Behauptung, welche das Ergebnis strenger Untersuchung sein müßte, in Gestalt eines unwissenschaftlichen Vorurteils unserm gewöhnlichen Vorstellungskreise einverwebt. Denn indem sie unter dem Namen der Seele in die Mitte jener beobachteten Erscheinungen ein durch keine Beobachtung nachweisbares Subjekt hineinstellte, hat sie ausgesprochen, dass jene Gruppe von Erscheinungen nicht nur um ihrer innern Verwandtschaft willen auf einen eigentümlichen Erklärungsgrundüberhaupt hinweise, sondern dass dieser Grund nur in der Annahme eines eigentümlichen substantiellen Wesens zu finden sei.

2. Die Möglichkeit, Psychologie als eigene Wissenschaft auszubilden, oder die Notwendigkeit, sie als einzelnes Gebiet der Anwendung denübrigen Naturwissenschaften einzuschalten, beruht auf der Wahrheit oder Unwahrheit dieses Vorurteils, das wir in der Bildung jeder Sprache wiederkehren sehen und deshalb zu den beständigsten Erzeugnissen menschlicher Reflexion zählen müssen. Man könnte es vorziehen wollen, hier, wie am Anfange anderer Naturwissenschaften, diese Frage dahin gestellt zu lassen, und von der vollendeten Untersuchung der Erscheinungen, die uns allein gegeben sind, die Entscheidungüber die Natur des unbeobachtbaren Prinzips zu erwarten, auf welches sie zurückzudeuten sind. Die unvermeidliche Unvollkommenheit psychologischer Wahrnehmungen läßt uns indessen von diesem Aufschub nicht gleichen Vorteil hier wie dort voraussehn. Der Naturbeobachtung steht eine so feine Messung freiwillig geschehender und eine so große Mannigfaltigkeit künstlich zu erzeugender Ereignisse zu Gebot, dass sie leicht aus der Vergleichung ihrer Erfahrungen die Möglichkeit des einen, die Unmöglichkeit des andern, und auf dem Wege fortwährenden Ausschließens die alleinige Zulässigkeit eines einzigen Erklärungsprinzipes folgern kann. Unsere Beobachtungen psychischer Zustände dagegen sind so fein und bestimmt niemals, dass uns eine einzelne von ihnen einen entscheidenden Beweis für die eine oder die andere Ansicht darböte; jene Züge des Seelenlebens aber, auf welche die Wahl eines Erklärungsgrundes am Ende der Untersuchung doch immer wieder zurückkommen würde, sind auch an ihrem Anfange klar genug, um die Beantwortung jener Frage zu dem ersten Gegenstande unsererÜberlegung zu machen. In drei Zügen nun scheint die lebendige Bildung der Sprache den Grund für die Erschaffung jenes Begriffes der Seele gesehen zu haben. Zuerst in der beobachteten Tatsache des Vorstellens, Fühlens und Begehrens, dreier Formen des Geschehens, in denen sich außer dem bloßen Sein und Geschehen noch eine hinzukommende Wahrnehmung dieses Seins und Geschehens, das Phänomen des Bewußtseins im weitesten Sinne, zeigt; dann in der Einheit dieses Bewußtseins, welche nicht gestattet, die geistigen Tätigkeiten an ein Aggregat teilbarer und nuräußerlich verbundner körperlicher Massen zu knüpfen; endlich in dem nicht beobachteten, sondern aus Beobachtungen gefolgerten Umstände, dass allesübrige Seiende sich in allen seinen Verhältnissen nur als wirkende Ursache benimmt, die nach allgemeinen Gesetzen vorherbestimmte Folgen mit Notwendigkeit erzeugt, während das Beseelte allein als handelndes Subjekt Bewegungen und Veränderungen, Tatenüberhaupt, mit neuem Anfange frei aus sich hervorgehn läßt. Prüfen wir nun, ob diese Züge die Annahme eines eigentümlichen Prinzips, der Seele ihrer Erklärung unentbehrlich machen, so werden wir finden, dass die Psychologie sich nicht auf alle mit gleichem Rechte stützen kann.

3. Vonäußern Eindrücken und ihren physischen Wechselwirkungen mit den materiellen Elementen unsers Körpers zeigt uns eine allgemeine und unablässig wiederholte Erfahrung die Veränderungen unserer geistigen Zustände abhängig. Andere Farben sieht unser Auge, andere Töne vernehmen wir, wenn die Schwingungsfrequenz oszillierender Mittel sichändert, die unsere Sinneswerkzeuge berühren, andere Empfindungen knüpfen sich an den Wechsel der Gestalt, der Dichtigkeit und der Geschwin