Erster Tag
Kapitel 1
Von Phantomen umgeben
Man ist nicht die Person, die man im Spiegel sieht, sondern die, die im Blick des anderen erstrahlt.
Tarun J. Tejpal
Universität Harvard
Cambridge
19. Dezember 2011
Der Hörsaal warüberfüllt, doch es herrschte Ruhe. Die Zeiger des Bronze-Zifferblatts der alten Wanduhr zeigten auf 14:55. Die von Matthew Shapiro gehaltene Philosophie-Vorlesung neigte sich dem Ende zu.
Erika Stewart, zweiundzwanzig Jahre alt, saß in der ersten Reihe und fixierte ihren Professor. Seit einer Stunde versuchte sie erfolglos, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hing geradezu an seinen Lippen und nickte bei jedem Satz. Trotz der Gleichgültigkeit, auf die ihre Bemühungen stießen,übte der Professor eine täglich größer werdende Faszination auf sie aus.
Seine jugendlichen Züge, sein kurzes Haar und sein Dreitagebart verliehen ihm einen beträchtlichen Charme, der unter den Studentinnen für Aufruhr sorgte. Mit seiner verwaschenen Jeans, seinen abgenutzten Lederstiefeln und seinem Rollkragenpulloverähnelte Matthew eher einem Doktoranden als seinen, zumeist streng und nüchtern wirkenden, Kollegen. Mehr noch als sein markantes Gesicht betörte jedoch seine Redegewandtheit.
Matthew Shapiro war einer der beliebtesten Professoren auf dem Campus. Seit fünf Jahren lehrte er in Cambridge, und seine Vorlesungen begeisterten die Neulinge. So hatte Mundpropaganda dafür gesorgt, dass sich in diesem Quartalüber achthundert Studenten für seine Kurse eingeschrieben hatten. Seine Vorlesung fand derzeit im größten Hörsaal von Sever Hall statt.
LEER IST DIE REDE JENES PHILOSOPHEN, DURCH DIE KEIN EINZIGES LEIDEN EINES MENSCHEN GEHEILT WIRD.
Auf diesem Satz von Epikur, der aus einer Auswahl von Schriften mit dem TitelVon derÜberwindung der Angst stammte und den er an die Tafel geschrieben hatte, basierte Matthews Lehre.
Seine Philosophie-Vorlesungen sollten verständlich sein und nichtüberfrachtet von abstrusen Fachbegriffen. SeineÜberlegungen und Schlussfolgerungen waren immer realitätsbezogen. Shapiro ging bei seinen Ausführungen stets vom Alltag der Studenten aus, von konkreten Problemen, mit denen sie konfrontiert waren: Der Angst, in einer Prüfung zu versagen, dem Bruch einer Liebesbeziehung, der Tyrannei der Blicke anderer, dem Sinn des Studiums ... Auf dieser Grundlage zitierte der Professor Plato, Seneca, Nietzsche oder Schopenhauer. Dank seiner lebhaften Darstellung schienen diese eminenten Persönlichkeiten eine Zeit lang die Lehrbücher zu verlassen, um vertraute und verständliche Freunde zu werden, die nützliche und tröstliche Ratschläge zu erteilen vermochten.
Mit Intelligenz und Humor verstand es Matthew, auch Populärkultur in seine Vorlesungen zu integrieren. Filme, Songs, Comics:Über alles konnte man philosophieren. Sogar Fernsehserien fanden ihren Platz in seinem Unterricht.Dr. House wurde als Beispiel für experimentelles Argumentieren herangezogen, die Schiffbrüchigen ausLost boten Gelegenheit,Überlegungen zum Gesellschaftsvertrag anzustellen, während die machohaften Werbeleute ausMad Men dazu dienten, die Entwicklung der Beziehungen zwischen Mann und Frau zu studieren.
Obwohl diese pragmatische Philosophie dazu beigetragen hatte, ihn auf dem Campus zu einem»Star« zu machen, hatte sie auch viel Neid und Verärgerung unter seinen Kollegen hervorgerufen, die Matthews Vorlesungen für oberflächlich hielten. Zum Glück hatten die guten Ergebnisse von seinen Studenten bei Prüfungen und in Auswahlverfahren bisher zu seinen Gunsten gesprochen.
Eine Gruppe von Studenten hatte seine Vorlesungen sogar gefilmt und aufYouTube online gestellt. Diese Initiative hatte die Neugier eines Journalisten vomBoston Globe geweckt, dessen Artikel auch von derNew York Timesübernommen wurde. Danach hatte man Shapiro aufgefordert, eine Art»Antibuch« der Philosophie zu schreiben. Obgleich sich der Titel gut verkaufte, war dem jungen Professor die beginnende Popularität nicht zu Kopf gestiegen, er war weiterhin für seine Studenten da und sorgte sich um ihren Erfolg. Die schöne Geschichte hatte jedoch eine tragische Wendung genommen. Im letzten Winter hatte Matthew Shapiro seine Frau bei einem Autounfall verloren. Ein plötzlicher, unerwarteter Tod, der ihn hilflos zurückgelassen hatte. Er hielt weiter seine Vorlesungen, aber der faszinierende und begeisterte Lehrer hatte den Enthusiasmus verloren, der ihn zuvor ausgezeichnet hatte.
Erika kniff die Augen zusammen, um ihren Professor genauer zu mustern. Seit dem Drama war in Matthew etwas zerbrochen. Seine Züge waren härter geworden, sein Blick hatte das Feuer verloren; Trauer und Kummer verliehen ihm jedoch eine düstere und melancholische Ausstrahlung, die ihn für die junge Frau noch unwiderstehlicher machte.
Die Studentin senkte den Blick und ließ sich von der sonoren Stimme tragen, die den Hörsaal erfüllte. Eine Stimme, die etwas von ihrem Charisma verloren hatte, aber immer noch angenehm war. Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster, heizten den großen Raum auf und blendeten die Studenten in den mittleren Reihen. Erika fühlte sich wohl, umfangen von diesem beruhigenden Tonfall. Doch dieser wunderbare Augenblick hielt nicht an. Sie zuckte zusammen, als die Glocke das Ende der Vorlesung ankündigte. Ohne Eile packte sie ihre Sachen ein und war