: Andrea Drumbl
: Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön
: Edition Atelier
: 9783903005525
: 1
: CHF 8.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 112
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein kraftvoller und feinsinniger Roman über Menschen und deren Schicksale, Männer und Frauen, Anfang und Ende, das Leben und den Tod. »Andrea Drumbl hat mit ihrer ?Vogelfreiheit? eine oft genug unheimliche, manchmal auch schön-morbide Prosawelt geschaffen. - Eine Prosawelt, die ich immer wieder, Kapitel für Kapitel gelesen habe.'

Andrea Drumbl, Jahrgang 1976, erhielt 2010 den Kärntner Lyrikpreis, 2011 das Startstipendium für Literatur des bmukk und 2012 das Jahresstipendium für Literatur des Landes Kärnten. Geboren in Lienz/Osttirol, Kindheit und Jugend in Kärnten (Kötschach-Mauthen), Studium der Deutschen Philologie und der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Lebt in Wien, Linz und Kärnten. 2013 erschien ihr Romandebüt »Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön'.

Günter oder
Der Flügeltanz


Angefangen hatte das alles damals, als er noch ein kleiner Junge war, in seinem Kindsein, da hatte es angefangen. Es hatte damals, in diesem Augenblick, tief unter seinen Augenlidern angefangen, denn dort unten saß er, dieser Blick in seinen Augen, mit dem alles seinen Lauf genommen hatte, denn schon damals saß sie dort, unter seinen Augenlidern, diese Verzweiflung, die ihn anstarrte, aus seinen Augen heraus, und die er sich später so sehnlich wegwünschte, mit einem verzweifelten Wunsch auf seinen purpurnen Lippen mit dem jungenhaften Flaum darauf. Schon damals war es für ihn zu spät zu leben, schon damals gab es für ihn diese tödliche Stille, die nachts an seine Fensterscheibe klopfte und an dunklen Wänden hochhüpfte und die er wie Zungenspitzen im Nacken spürte– ihn umschmeichelnd und liebkosend, ein verheißungsvoller Zauber.

Ein Flügeltanz.

Später dann hatte er sich fallen lassen, nachdem ihm die Tabletten im Hals stecken geblieben waren und ihm einen ungeheuerlichen Brechreiz verursacht hatten, einen Brechreiz auf das Leben. Er hatte sich fallen lassen, hatte sich fallen lassen aus diesem verdammten Fenster, das im vierten Stockwerk lag und das ihm alles versprach und alle Farbe erdrückte, als das Dunkle vom Himmel stürzte und alle Wolken mit sich riss. Und dort ein Seufzer, hängengeblieben in einer Ecke, ein Schluchzen, das gegen die Scheibe prallte– ein viel zu Müdes, ein viel zu Vieles mit viel zu viel Erregung in der Luft, sie nagte zu sehr an seiner Haut.

An jenem Abend in diesem September aber, da erwachten die Silhouetten der Stadt wieder einmal so müde und matt wie so oft zuvor im fahlen Schein der Abenddämmerung, und immer mehr entfernte sich das Tageslicht, bis sich die Häuser in der grauen Dämmerung verloren und die Schleier, die durch die Fensterscheibe fielen, vom Grau ins Schwarze wechselten. Eine laue Septembernacht hingüber der Stadt.

In der Dunkelheit schlichen die Stunden dumpf und träge dahin, während sich draußen eine unheimliche Finsternisüber die Straßen spannte. Irgendwo schwirrte noch ein kleines Insekt, ein kurzes Surren, dann nichts mehr. Kein Ton war mehr zu hören in dieser Stille, die bedrohlich war. Und hinter dünnen Wolken stand der Mond, stumpfgrau und fahl, ein schwerer Schatten, der aus dem Nichts herauszukriechen schien und vor dem sich ein uralter Baum in die Nacht hinein erhob. Er sah bedrohlich aus mit seinem knorrigen Stamm voller Furchen und Risse, und die Luft um ihn herum schwamm in Nebeln, die wie dünne Schatten einen Walzer tanzten, die wie dünne Schatten einen Wiener Walzer tanzten, während trübe Luft vom Boden aufstieg und sich mit der Dunkelheit zu einer verzerrten Fratze vermischte. Langsam und leise pirschte sich diese Fratze der Dunkelheit an Günter heran, der wie betäubt in die Finsternis starrte, in dieses furchtbare Grauen, bei dem er sich so verlassen, so alleingelassen fühlte, bis sich das schwarze Loch der Nacht endgültigüber die Stadt ausbreitete. In diesem Moment war Günters Gesicht so grau und leer wie seine Zukunft, und der Blick in seinen verhangenen Augen war ein dunkler. Es war der Blick eines Verzweifelten, eines zutiefst gebrochenen Menschen. Günter