: Ulrike Schmitzer
: Die falsche Witwe
: Edition Atelier
: 9783903005556
: 1
: CHF 7.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 104
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eva muss zum neuen Freund ihrer Mutter 'Onkel' sagen. Doch wer ist dieser Mann, der ihr so bekannt vorkommt? - Jahrzehnte später wird durch den Tod des Onkels das Geheimnis gelüftet: Auf dem Grabstein steht sein richtiger Name. Die überraschende Wahrheit hat ein gerichtliches Nachspiel: Die Witwe wird wegen schweren Betruges angeklagt. Warum wurden die Kinder belogen? War der Onkel ein Verbrecher, der der Entnazifizierung entging? Das Schweigen bestimmt das Leben der ganzen Familie. Ulrike Schmitzer zeigt in ihrem neuen Buch vielschichtig und sensibel, wie eine einzige Lüge alle anderen unbedeutend werden lassen kann.

Ulrike Schmitzer, 1967 in Salzburg geboren; Studium der Publizistik und Kunstgeschichte; Redakteurin bei Ö1, freie Filmemacherin und Autorin in Wien; zahlreiche Radiopreise, unter anderem den Radiopreis für Erwachsenenbildung/Eduard-Plo er-Preis 2005 u. 2006; Absolventin der Leondinger Akademie für Literatur 2008; zuletzt von ihr erschienen: Bourdieus Erben (2006, Hg. m. Elisabeth Nöstlinger) und Susan Sontag. Intellektuelle aus Leidenschaft (2007, Hg. m. Elisabeth Nöstlinger), beide im Mandelbaum Verlag, Wien; Veröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften, u.?a. kolik, Literatur& Kritik, SALZ

2


Er ist es. Da ist sie sich ganz sicher. Sie sagt es zuerst Anna.»Plemplem«, ist die Antwort der kleinen Schwester. Sie sagt es ihrer Mutter. Aber die lacht nur. Es ist ein eigenartiges, lautes Lachen. Und dann ist die Mutter ganz ernst und sagt:»Sei still. Dein Papa ist im Himmel, das weißt du.«

Während die Mutter ins Dorf einkaufen fährt und er im Stall arbeitet, durchsucht Eva den Schrank. Dort sind die Fotos. Es gibt ein Album und die bunte Schachtel. Im Album sind vergilbte Schwarzweißfotos von den Urgroßeltern, den Urgroßtanten und den Urgroßcousinen. Nichts. Kein Bild von Papa. In der Schachtel sind die Fotos, die nicht eingeklebt werden. Aber zum Wegwerfen zu schade, sagt die Mutter immer. Sie sieht jedes Foto einzeln durch. Und noch einmal. Sie muss etwasübersehen haben. Mutter als junges Mädchen. Doch es gibt kein Foto, auf dem ihr Vater zu sehen ist. Einmal seine Strickweste auf der Sitzbank, einmal ein Hausschuh quer im unteren Bildrand auf dem Teppich. Eva als Baby, mit einer großen Torte, in der Mitte eine Kerze. Eva auf der Hängeschaukel, zwei Kerzen, mit dem Dreiradler, drei Kerzen. Ihr vierter Geburtstag fehlt. Und dann ist Anna immer auf den Fotos.

Ich werde von Papa träumen, nimmt sie sich vor.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragt die Mutter.

»Nein«, sagt Eva.

»Hast du Fieber?«, fragt sie, während sie ihr auf die Stirn greift.

»Ich gehe heute besser früher ins Bett«, sagt Eva und versucht so wenig wie möglich zu sprechen. Zu viel sprechen ist immer verdächtig.

»Schlaf dich gesund«, sagt die Mutter und beobachtet sie noch aus dem Augenwinkel, während sie den Küchentisch abräumt.

Es ist noch hell. Sie schlüpft unter die Decke, damit es dunkler wird.

»Was machst du da?« Anna krabbelt in ihr Bett. Eva dreht sich so schnell, dass Anna ihre Füße im Bauch hat.

»Geh weg!«, schreit sie,»lass mich in Ruhe«.

Anna dreht beleidigt ab. Eva versucht sich zu konzentrieren. Sie hat schonöfter von ihrem Vater geträumt. Einmal war er bis kurz vor dem Aufwachen da und sie hat seine weiche, große Hand in ihrer gespürt. Sein Gesicht hat sie aber noch nie gesehen. Eva hat nichts im Kopf, sagt die Mutter. Eva geht einkaufen und vergisst, dass sie Milch bringen soll. Sie fährt mit dem Rad ins Dorf und weiß dann nicht mehr, wo sie es abgestellt hat. Sie kann sich nicht erinnern, wie das dritte Kätzchen ausgesehen hat, das gleich bei der Geburt gestorben ist.

»Du bist dumm!«, sagt Anna und zeichnet ihr das Fell der Katze auf.»Es war gefleckt mit einer Viertel schwarzen Nasenspitze«, sagt Anna. Dabei kann sie gar nicht wissen, was ein Viertel ist.

Eva kann nicht einschlafen. Sie denkt an die Kätzchen. Zwei durfte sie behalten. Wenn ich erwachsen bin, lasse ich alle Katzenbabys leben,überlegt sie. Egal wie viele. Sie dreht und dreht und dreht sich. Endlich, der Schlaf. Er kommt in Form einer großen Kugel auf sie zu, auf einer riesigen Fläche. Ein großer Raum, er wird enger und enger. Dieses Gefühl kennt sie nur vom Einschlafen. Normalerweise versucht sie die Kugel zurückzudrücken, heute aber nicht. Das Bett kracht. Es ist finster, mitten in der Nacht. Sie dreht das Licht auf. Anna wetzt neben ihr im Bett. Sie darf nicht vergessen, was sie geträumt hat. Zu spät. Morgen will sie sich Zettel und Stift zum Bett legen. Ich werde es ab jetzt jede Nacht versuchen, nimmt