: Elena Messner
: Das lange Echo
: Edition Atelier
: 9783903005600
: 1
: CHF 8.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 184
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein österreichisch-ungarischer Offizier im Ersten Weltkrieg, seit 1916 im besetzten Belgrad stationiert, erlebt in bitterer Verzweiflung den Zusammenbruch seines Reiches. Hundert Jahre später sitzen die Direktorin des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums und ihre Assistentin einander im Streitgespräch über Moral und Mitleid, Verbrechen und Verantwortung gegenüber.

1983 in Klagenfurt geboren, aufgewachsen in Ljubljana und Salzburg, Studium der Komparatistik und Kulturwissenschaften in Wien und Aix-en-Provence. Abgeschlossene Dissertation zu südslawischer Literatur, Literatursoziologie und interkulturellem literarischen Transfer. Mitarbeit beim wissenschaftlichen Internetprojekt Kakanien Revisited (www.kakanien.ac.at). Mitbegründerin der Kulturplattform www.textfeldsuedost.com, übersetzt aus dem Slowenischen und dem Kroatischen/Serbischen. Lehrtätigkeit an Universitäten in Wien, Berlin, Klagenfurt und Innsbruck. Lebt derzeit in Marseille und unterrichtet am Institut für Germanistik an der Universität Aix/Marseille.

wir


Der Offizier Milan Nemec war in der Stadt, um im Rücken der Front für Ruhe und Ordnung zu sorgen, um zu helfen, die Landesressourcen bestmöglich auszunutzen und um die Kommunikationslinien, die immer unüberschaubarer wurden, am Laufen, sei es auch am Irrlaufen, zu halten. Glücklich machte das einen Mann nicht. Seit Kinos und Schwimmbäder extra für Offiziere eingerichtet worden waren, war alles etwas leichter auszuhalten. Aber nein, glücklich, das konnte man nicht behaupten, dass er das war, der Nemec.

Warum er jedoch in diesem Ausmaßüberreagierte an jenem Herbsttag, bleibt bis heute zu einem gewissen Grad unerklärlich. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass es der trommelnde Einsatz des WortesWir gewesen war, der ihn irritiert hatte, oder, noch wahrscheinlicher, das ebenso schlagende WortPalatschinken, weil ihm sofort der Geruch von verbranntem Fett in die Nase stieg, wenn er dieses Schreckenswort hörte.

Wir, meinte dieser Besuch etwa, wir haben unsre militärische Niederlage ja bloß eing’steckt, weil wir den Frieden geprobt haben, in den letzten Jahrzehnten. Unsre Armee: ein depperter Lipizzaner, der nur für Paraden taugt, unsere Truppen, die man erst niederpeitschen muss, damit sie lernen, was Galopp ist. Das konnte ja wohl kein Erfolg werden, nicht wahr, wenn wir die Herrn Soldaten schlafend an die Front transportieren müssen, anstatt dass sie selbst dahinfinden, auf ihren zwei Beinen. Diese Soldaten, die wir erst von ihrem weißen Kaffee und ihrem Guglhupf entwöhnen mussten, bis sie kapiert haben, was das heißt, Krieg. Und als wir sie aus allen Teilen unseres Reiches zusammenmobilisieren mussten, von ihren Feldern holen, mitten aus der Ernte: Was wir ihnen da nicht alles mitgegeben haben auf die schöne Reise: neues Schuhwerk und sauberes G’wand, Brotsäcke, Tornister, Taschenlampen und Kompasse. Wie für eine Abenteuerexpedition, eine kleine Entdeckungsreise ausgerüstet haben wir sie, samt ihren Backhenderln und dem Paprikasch und den Palatschinken, lauter Herren, die vor dem Krieg nichts waren und nichts gehabt haben, und dann auf einmal, im Krieg, haben sie Zahnbürsterl im Sackerl. Wer weiß, ob dieüberhaupt schon jemals ein Zahnbürsterl in der Hand gehabt haben vor dem Krieg. Na, da haben sie sich dann ang’schaut, die Herren Soldaten, wie’s aus war mit den Henderln und den Palatschinken und dem Tabak und den Zahnbürsterln. Da war die Moral am Anfang noch hoch, bei der Truppe, aber die Moral, die ist gleich mit bergab, mit der Verpflegung. Weil als sie im Dreck gelandet sind und die Decke feucht und plötzlich,Überraschung, die Sackerln alle leer war’n im Krieg– aus mit den Palatschinken, mitten im Schlamm und im Graben–, da sind sie aufg’wacht, die Herrschaften. Natürlich hat er sieüberrascht, der Krieg, der sie ihr Leben hat kosten können, der schon ihre Kameraden das Leben gekostet hat. Und dann, als sie das verstanden haben, unsere Soldaten, die vor dem Krieg nichts waren und nichts gehabt haben, und erst recht, nachdem sie zurückgejagt wurden vom Feind, nur zum Teil zurückgejagt, der andere Teil war im Graben geblieben, da war dieÜberraschung groß. [Hüsteln] Ja, zugegeben, auch unsreÜberraschung war recht groß, so haben wir den