: Jesse Browner
: Alles geschieht heute
: Verlag Freies Geistesleben
: 9783772540172
: 1
: CHF 15.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 249
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Wo bist du?' Das weiß Wes selbst nicht immer so genau bei seinem intensiven Leben in Roman- und Vorstellungswelten. Aber am vergangenen Abend ist er von Lucy gefunden worden - gegen seinen Willen. Oder doch nicht ganz? Wie war das auf der Party, die er am liebsten verdrängen möchte? Wer und wo ist dieser Wes vierundzwanzig Stunden später?

Jesse Browner ist Schriftsteller, Gastro-Journalist und preisgekrönter Übersetzer von u.a. Jean Cocteau und Rainer Maria Rilke. Seine Romane 'Conglomeros' (1992), 'Turnaway' (1996) und 'The Uncertain Hour' (2007) wurden bei Random House und Bloomsbury verlegt. Als freier Journalist veröffentlicht er Beiträge in 'The New York Times Book Review', 'New York magazine', 'Food& Wine' und 'Gastronomica'. Sein Roman 'Everything happens today' ist 2011 erschienen. Jesse Browner lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Manhattan.

«Hi, Mom. Wie geht es dir?»

«Wes? Komm her, Schatz.»

Wes ging zu ihrem Bett, das so eingestellt war, dass ihr Oberkörper aufgerichtet war, damit sie besser sehen konnte. Die Bettdecke war glatt gestrichen und oben umgeschlagen, was Nora morgens gemacht haben musste, und ihre Arme stecktenüber der Decke in den dünnen, billigenÄrmeln eines Krankenhauskittels. Ihr Kopf ruhte in einer Wiege aus frisch aufgeschüttelten Kissen, ihr Haar war mittlerweile so dünn und farblos, dass die weißen Bezüge durchschienen. Wes stellte sich auf Zehenspitzen an die hohe Bettkante und beugte sich vor, um seine Mutter forschend anzusehen.

«Und, wie geht’s dir?»

«Prima.» Sie näselte pfeifend, als müsste sie ihre Stimme durch ein Strohsieb pressen, aber sie hörte sich kräftiger an als noch vor einem Monat. Außerdem nuschelte sie nicht mehr so arg.«Wie steht’s mit dir, Schatz?»

Wes wusste nie so genau, worauf sie mit dieser Frage hinauswollte. Manchmal hörte sie tatsächlich aufmerksam zu, doch in den meisten Fällen sprach nur die Krankheit aus ihr, als wäre sie die Puppe eines Bauchredners und als wollte sie eigentlich nur sagen:«Tu einfach so, als wäre alles in Ordnung.» Normalerweise hielt er sich damit zurück, sie herauszufordern, doch heute ließ er einen Hauch von Mehrdeutigkeit in seine Antwort einfließen.

«Ganz gut, Mom.»

«Ist was, Schatz?»

«Ach, Mom, ich weiß nicht, ich…»

«Du, ich habe ein bisschen Hunger. Kannst du mir Pudding bringen?»

«Hat Nora dir nicht schon Frühstück gemacht?»

«Nein, hat sie nicht, die kleine Ratte.»

«Sie hat dir kein Frühstück gemacht?»

«Wes, muss ich das wirklich zweimal sagen? Sie hat mir kein Frühstück gemacht, verdammt.»

«Okay, okay, reg dich nicht auf. Ich kümmere mich darum. Kann ich kurz das Licht anschalten?»

«Es tut mir in den Augen weh.»

«Nur kurz. Du kannst sie ja so lange schließen. Ich will mir deine Haut ansehen.»

«Nur zu.»

Als Wes aufstand und sich zur Nachttischlampe drehte, stieß er mit der Stange der elektrischen Hebevorrichtung zusammen. Es tat nicht weh, aber er verfluchte das Gerät. Es war eine Art Schaukel, die man querüber das Bett spannte, doch bestand sie aus einem Nylongeschirr, wie es bei Rettungsaktionen von einem Hubschrauber heruntergelassen wird. Theoretisch konnte sich seine Mutter auf die Seite wälzen, das Geschirr unter ihren Po schieben, auf einen Knopf drücken und in ihren Rollstuhl gleiten, der neben dem Bett stand. Eigentlich sollte es dazu dienen, dass sie sich unabhängiger fühlte, aber da sie große Probleme hatte, das Geschirr richtig unter sich zu ziehen, war es seit Monaten nicht zur Anwendung gekommen. Er und Nora wollten damit spielen, als sie im Krankenhaus lag, doch es hatteüberhaupt keinen Spaß gemacht. Sie hatten es nur für den Fall dabehalten, wenn sie nicht mehr allein zu