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Jenny hat mich gebeten, das Ganze aufzuschreiben. Sie wollte, dass ich es für sie sortiere, auffädele, Perle um Perle, eine Geschichte daraus mache, wie einen Rosenkranz, den sie abzählen und immer wieder aufsagen kann. Aber ich habe es auch für sie geschrieben. Für Mom, oder Irene, wie die anderen sie nannten, denn den Teil von sich, der»Mom« war, hatte sie schon vor langer Zeit hinter sich gelassen. Selbst jetzt steigen immer noch Schuldgefühle in uns auf, wenn wir an sie denken. Wir haben nicht versucht, unsere Mutter zu finden. Sie war fort, wie eine Katze, die eines Abends durch die Hintertür verschwindet und nicht mehr wiederkommt, und du weißt nicht, ob ein Kojote sie sich geschnappt hat oder ein Raubvogel oder ob sie krank geworden ist und es nicht mehr nach Hause geschafft hat. Wir ließen die Zeit vergehen, wir warteten voll Vertrauen, denn sie war immer eine wunderbare Mutter gewesen. Sie ist die Mutter, sagten wir uns wieder und wieder, zumindest in der ersten Zeit. Ich weiß nicht mehr, wer damit angefangen hat.
Nein, das stimmt nicht. Ich war es. Jenny sagte:»Wir sollten sie suchen.« Und ich sagte:»Sie ist die Mutter.« Als ich das sagte, ahnte ich nicht, welche Macht diese paar Worte in unserem Leben bekommen würden. Sie hatten den bedeutungsvollen, unantastbaren Klang der Wahrheit, aber sie wurden zu einem Anker, der uns von unseren ureigensten Impulsen zurückzerrte. Wir warteten darauf, dass sie kam und uns holte, aber sie tat es nicht.
Es gab keine Anzeichen dafür, dass dies passieren würde. Ich weiß, die Leute suchen immer nach Anzeichen, weil sie dann sagen können,Wir gehören nicht zu den Leuten, denen so etwas passiert– als würden wir dazugehören, als hätten wir es wissen müssen. Aber es gab keine Anzeichen. Nichts außer meiner ständigen Sorge, mit der ich wahrscheinlich schon auf die Welt gekommen bin, falls man als Sorgenmacherin geboren werden kann. Jenny glaubt, man kann.
Sorgen waren in jede Nische rund um mein Herz gestopft wie Zeitungspapier in die Ritzen einer Hüttenwand, und sie erdrückten die Leichtigkeit, die dort hätte sein sollen. Ich bin jetzt alt genug, um zu wissen, dass es Menschen gibt, die sich nicht ständig vom Schatten der Katastrophe bedroht fühlen, dieüberzeugt sind, dass ihr Leben immer eine wohlgeordnete, offene Ebene ohne Hindernisse sein wird, mit blauem Himmel und klar erkennbarem Weg. Meine Besorgnis führte dazu, dass ich mich zurückzog. Ich konnte nicht wie Jenny sein, die so offen war wie ein sonniger Tag, an dem es nichts anderes zu tun gab, als auf der Wiese zu liegen, den warmen Boden und den leichten Wind zu spüren und dem Summen der Insekten zu lauschen. Bald, demnächst, nie– diese Wörter existierten für sie nicht. Jenny war immer und ja.
Wie ich schon sagte, es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass an den kleinen, vertrauten Orten, aus denen unsere Welt bestand, irgendetwas schiefgehen könnte. Das Zimmer, in dem Jenny und ich schliefen, war türkisblau gestrichen, und wenn die Morgensonne hereinschien, kam man sich vor wie im Innern eines Vogeleis. Ich sah zu, wie das Licht wanderte, und nach einer Weile bildeten sich auf der gemaserten Oberfläche der Holzwand winzige Hügel und Täler. Der Morgen in diesem Land kam langsam, durchzogen von dunstigem Licht, das sich nur allmählich in den hellen Schein des Tages verwandelte.
Unser Haus in Duchess Creek hatte einen ganz eigenen Geruch, der mich schon an der Haustür begrüßte, eine Mischung aus gekochten Rüben, Tomatensuppe und gebratenem Hackfleisch, die in den Vorhängen hing, in den dünnen Wänden und Decken oder im Zeitungspapier, das als Isolierung diente. Es war ein warmes Haus, sagte Mom, aber von Leuten gebaut, die nicht vorhatten zu bleiben. Die Küchenschränke hatten keine Türen, und das Bad war nur durch einen schweren, geblümten Vorhang vom Hauptraum abgetrennt. Die Elektrizität hielt 1967 Einzug in Duchess Creek, in dem Jahr, als ich sieben wurde und