: Monika Carbe
: Die Friedhofsgärtnerin Roman
: Größenwahn Verlag
: 9783942223836
: 1
: CHF 1.80
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: Erzählende Literatur
: German
: 168
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Niemand kennt ihre Vorgeschichte, und genau so will sie es haben. Alice, Ende 40, ist freundlich, etwas scheu, beschwert sich nie und arbeitet gerne als Gärtnerin auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Sie prägt sich Namen und Daten auf den Grabsteinen ein - Oberbürgermeister und Stadtverordnete, Wohltäter und Finanzgenies, Sinti und Roma - genießt die grüne Oase, die sie umgibt und durchstreift in den Pausen mit ihrem Fahrrad die Stadt. Als bei den Arbeiten rund um das Ehrenmal für die Gefallenen der beiden Weltkriege, in diesem versteckten Teil des Friedhofes ein paar Haschischpflanzen gefunden werden, beginnt für sie und ihren ausländischen Arbeitskollegen, mit dem sie sich gut versteht, eine schlimme Zeit: Kündigung, Gerichtsverfahren, Medienjagd. Alice wird aus ihrer stillen Welt rausgerissen und die Vergangenheit holt sie ein. Familiengeheimnisse und Ängste verfolgen die labile und melancholische Frau bis in ihre Dachkammer im Westend. Wer kann ihr helfen, wer holt sie aus ihrer selbstgewählten Einsamkeit heraus? Wer gibt ihr Arbeit und Selbstwertgefühl zurück? Monika Carbe lässt die 1990er Jahre wieder aufleben, eine Zeit, als die Grenzen der bekannten Weltordnung neu gezogen wurden und Rechtsradikale sich verstärkt zu Wort meldeten. Ihr Roman ist eine Mahnung an die Gesellschaft und gleichzeitig ein Lobgesang auf das multikulturelle Frankfurt, das auf seinem Haupt-friedhof die eigene Vergangenheit bewahrt, hegt, pflegt und neu bepflanzt.

Monika Carbe, 1945 in der Theaterstadt Meiningen in Thüringen geboren, wuchs ab 1952 in Herford in Westfalen und Umgebung, zeitweise auch in Kopenhagen auf. Sie studierte Germanistik, Indologie und Philosophie in Marburg an der Lahn und schloss ihr Studium 1971 mit einer Promotion über Thomas Mann ab. Nach zwei Jahrzehnten hauptberuflicher pädagogischer Tätigkeit in der Erwachsenbildung entschloss sie sich ab den 1990er Jahren, freiberuflich als Autorin und literarische Übersetzerin zu arbeiten. Sie schreibt Lyrik, Prosa und Essays, Rezensionen und Kunstkritiken für Zeitungen und Zeitschriften und hat viele Werke aus dem Türkischen und Englischen übersetzt. Monika Carbe lebt heute in Frankfurt am Main.

ECKENHEIMER LANDSTRASSE
EFEU


Das Lächeln einer fülligen Roma-Matrone, vor deren Foto auch jetzt im Sommer ein Grablicht flackerte, verlockte Alice ebenfalls zu einem Lächeln, wenn auch wehmütig, da die freundliche Abgebildete schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilte. In ihrer grünen Kittelschürze ging Alice an der Gräbern entlang und warf einen Blick auf Namen, Fotos und Pflanzen. Rosen blühten zwischen Efeu, verspäteten Stiefmütterchen und Goldlack. Der Verkehrslärm der Eckenheimer Landstraße hinter der Friedhofsmauer war unüberhörbar, Bremsen quietschten, und ab und zu bimmelten Straßenbahnen.Üppig geschmückt waren die Grabstätten der Roma-Familien; ihre Einfriedung bestand meist aus Marmor, und manchmal steckten auch künstliche Rosen an den mit Messing umrahmten Bildern. Was für ein Unterschied zu den schlichten Kreuzen und Inschriften auf den Steinplatten der anderen Ruhestätten!

Alice war ohne Vater aufgewachsen und hatte ihn nie vermisst. Geboren ein paar Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war sie als von der Mutter und den Großeltern geliebtes und verwöhntes Kind groß geworden. Ihr Vater war im April 1945 gefallen, hieß es– und ihre Mutter, die sinnenfreudige Johanna, hatte ihn immer idealisiert und ihrem Kind als Vorbild dargestellt. Als Kind in thüringischen Meiningen, hatte Alice alles geglaubt, was man ihr erzählte. Während sie aber jetzt, mit Ende 40, an den Gräbern der einst verfolgten Sinti und Roma vorüberging, wurde ihr wieder einmal bewusst, an was für entsetzlichen Verbrechen ihr Vater beteiligt war. Sie hatte sich mit der Vergangenheit beschäftigt, den Papieren ihrer Familie gekramt und so davon erfahren.

Eigentlich arbeitete Alice lieber im Gewann B oder J, dort, wo man wie abgeschnitten war von der Gegenwart, beschützt vom Grün der Eichen, Buchen und Pappeln, zwischen steinernen Kreuzen, Putten und Statuen. Dort herrschte Stille, wenn die Kollegen nicht mit ihren Pritschenwagen vorbeiratterten, die Laubsäge ansetzten oder die Wege mit ihren automatischen Besen säuberten. Hier war Alice ganz mit sich selbst eins und konnte ihren Erinnerungen nachhängen. Mit ihrem kastanienbraunen Haar wirkte sie jünger; sie war schlank, hatte eine gute Figur, legte jedoch kaum Wert auf ihrÄußeres. Seit ein paar Jahren werkelte und jätete sie auf dem Hauptfriedhof, nachdem sie in ihren früheren Stellen gescheitert war. Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken, wie es dazu gekommen war, denn die Umstände, unter denen ihr immer wieder von heute auf morgen der Stuhl vor die Tür gesetzt worden war, ließen nur trübsinnige Gedanken aufkommen. Die Erinnerung daran tat zu weh.

Lieber gab sie sich zwischen Buchsbaumhecken und steinernen Zeugen der Vergangenheit anderen Erinnerungen hin, an ihre Kindheit, in der alles seinen Sinn gehabt hatte, als bestünde die Welt aus einer riesigen Wiese von Himmelschlüsseln zwischen Linden, Kirsch- und Apfelbäumen und den Tabakpflanzen, die ihr Großvater angebaut hatte. Damals in Meiningen, am Steinernen Berg. Dann der Bruch, als sie, knapp sieben, mit der unternehmungslustigen Johanna die Großeltern verließ undüber West-Berlin nach Hannover flog. Es war eine Flucht erster Klasse aus der DDR, und sie landeten weich, hatte Johannas Bruder doch auf einem Bauernhof in Ostwestfalen für ihre Unterkunft gesorgt. Auch dort hätte sich alles sinnvoll zusammen gefügt, wäre nicht ihre extrem schwierige Pubertät gekommen.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch daran dachte sie ungern, an ihre Zeit als junges Mädchen, als sie sich zum ersten Mal– unglücklich– verliebte und in die Nervenklinik kam, dort in einen langen Schlaf versetzt wurde und danach viel Zeit brauchte, um wieder zu sich zu kommen. Das Abitur schaffte sie trotzdem und lernte dann im Studium in Marburg an der Lahn ein neues Leben kennen, das so gar keineÄhnlichkeit mehr mit den strengen Konventionen der westfälischen Kleinstadt hatte, in der sie aufs Gymnasium gegangen war. Literaturwissenschaften studierte sie, lernte Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch, schrieb Seminararbeitenüber Heinrich Heine, Gottfried Benn und Heinrich von Kleist, verliebte sich und wurde wieder geliebt,