: Sarah Moss
: Schlaflos
: mareverlag
: 9783866483033
: 1
: CHF 7,80
:
: Erzählende Literatur
: German
: 496
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine karge Insel im Westen Schottlands, ständige Stromausfälle und eine unsichere Telefonverbindung. Ein Zweijähriger, der die Nächte zum Tag macht, und ein Siebenjähriger, der die Tage damit verbringt, sich die originellsten Versionen des Weltuntergangs auszumalen. Dazu ein Ehemann, der einer in den Klippen heimischen Papageientaucherkolonie mehr Zeit widmet als seiner Familie: Unter diesen nicht gerade idealen Bedingungen versucht die Historikerin Anna Bennett, eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema Kindheit im 18. Jahrhundert zu schreiben. Aber wie soll sie auch nur eine Zeile zu Papier bringen, wenn sie allein und völlig übernächtigt zwei unternehmungslustige Kleinkinder in einer felsigen Einöde beschäftigen muss? Als zwei rätselhafte Funde im Garten und auf dem Dachboden des sich seit Generationen im Familienbesitz befindlichen Wohnhauses zu allem Überfluss Einblicke in die düstere Vergangenheit der Insel gewähren, sieht Anna endgültig ihre Felle davonschwimmen. Doch dann verbindet sich ihr chaotischer Alltag auf unerwartete Weise mit ihrem Forschungsgegenstand und der Inselhistorie ... Gleichzeitig gute Mutter und Wissenschaftlerin zu sein, noch dazu auf einer abgelegenen, windigen Nordseeinsel - keine leichte Aufgabe. Sarah Moss schildert das Dilemma ihrer Heldin mit so viel Selbstironie, Komik und Intelligenz und das Geheimnis der Insel mit so großer Spannung, dass eines sicher ist: 'Schlaflos' hält wach.

Sarah Moss, geboren in Schottland, studierte und promovierte an der Oxford University. Nach Stationen am University of Exeter's Cornwall Campus und an der Universität Island lehrt sie heute an der University of Warwick.

Das Realitätsprinzip


Die Annahme, daß derÜbergang vom Lust- zum Realitätsprinzip eine Vorbedingung für die Sozialisierung des Individuums ist, behält ihre Richtigkeit. Sie ist nur nicht umkehrbar: der Fortschritt zum Realitätsprinzip allein gibt keine Sicherheit, daß das Individuum den sozialen Anforderungen nachkommen wird.

Anna Freud,Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung

Die Singschwäne sind nah am Ufer, wie helle Scherenschnitte treiben sie vor den in der Dämmerung verschwimmenden Wellen dahin. Nachts raunen sie einander Oboenklänge zu, Holzbläser, die sich gegenseitig beruhigen. Gewöhnliche Schwäne, die Schwäne der Königin auf dem Fluss, an dem wir zu Hause Enten füttern, haben Gesichter, die aussehen wie von irgendeiner mittelalterlichen Krankheit gezeichnet, und sie schlafen auf einem Bein stehend, die Köpfe unter den Flügeln, wie kinderlose Passagiere auf Langstreckenflügen, die es unter Schlafbrillen aus Nylon Nacht werden lassen. Die Schwäne hier scheinen nachts wach zu bleiben, sie segeln durch das schwächer werdende Licht wie Schiffe auf dem Weg in ferne Länder, und sie haben Gesichter, so gleichmäßig und neutral wie dasCorps de Ballet, Gesichter, die weder Trauer noch Schmerz ausdrücken. Vielleicht ist das ein Vorzug bei Gattungen, die sich Partner fürs Leben suchen.

Ich sehe mich nach dem Haus um. Die Fassade, dunkel wie die Klippenwand am anderen Ende der Insel, weist das Abendrot ab, das noch auf dem Meer leuchtet, von dort, wo Amerika sich einem neuen Tag zuwendet, während wir uns von der Sonne abwenden. Einer der Schwäne reckt sich dem Himmel entgegen und schreit in plötzlicher Erregung auf, seine Flügel dreschen auf das Wasser ein, als wäre ihm gerade wieder eingefallen, dass ein Freund gestorben ist. Ich habe einmal eine Gans sterben sehen, eine Kanadagans, die den ganzen Weg aus der Arktis geflogen war, um ihr Leben auf dem Seitenstreifen der M 40 zu beenden, und obwohl ein Flügel noch wie zu Musik schlug, während der andere auf dem Rüttelstreifen lag, wirkte ihr Gesicht ungerührt. Ich stand auf der Brücke, sah hinaus und schuckelte den Kinderwagen, in dem das Baby nur so lange schlafen würde, wie wir uns bewegten, bis irgendein Lastwagenfahrer aus Mitleid oder Unaufmerksamkeit ein Gestöber aus Federn und rotem Matsch auf der Straße hinterließ. Unsere Schwäne sind hier vor so etwas sicher. Einen Sommer lang. Wie wir werden sie im Herbst nach Süden ziehen, aber erst einmal gibt es keine Autos, keine Straßen. Auch keine Brücken. Am dunkler werdenden Himmelüber dem Hügel erscheinen die Sterne. Ich erschaudere; es ist nicht besonders kalt, aber Zeit hineinzugehen.

Der Strom ging immer noch nicht wieder, was zu dieser Jahreszeit nicht allzu schlimm ist, solange wir unsere Laptops aufgeladen haben. Giles hatte eine Kerze angezündet.

»Guck! Hier ist es.« Er gab mir einen Urlaubskatalog, umgeschlagen, sodass ein briefmarkengroßes Bild des Blackhouse unten am Strand zu sehen war, aufgenommen im letzten Sommer, ehe die Bauarbeiten begonnen hatten. Geplant ist, es als Ferienhaus zu vermieten und mit diesen Einnahmen irgendwann die Renovierungskosten zu decken. Realistisch ist, dass die mit Argon gefüllten Dreifachfenster, das Grauwassersystem (das Klo wird mit dem Wasser gespült, mit dem vorher die Kleidung gewaschen wurde) und die aufgearbeiteten Möbel (aufgearbeitet von einem Betrieb in Bath und zu einem Preisüber Land und Meer transportiert, der Giles dann dochüberraschte) vielleicht zu Lebzeiten unserer Enkel abbezahlt werden– falls wir Enkel bekommen–, allerdings nur, wenn Giles aufhört, unseren Freunde