Vorbild allein genügt nicht
I m Wartezimmer unserer Abteilung spielte sich einmal Folgendes ab:
Eine Mutter und ihr elf Monate alter Bub saßen, ihren Aufruf zur Untersuchung erwartend, friedlich vereint, die Mutter am Kindertisch, das Kind am Boden. Beide taten dasselbe: Die Mutter blätterte – hörbar – in einer Illustrierten, das Kind in einem der ausgelegten Bücher. Eine unserer Mitarbeiterinnen kam vorbei, sah die Szene und fragte die Mutter:»Versteht er, was er da liest?« Die Mutter antwortete:»Das ist ihm noch einerlei, Hauptsache es knistert und er hat etwas zum Zerreißen!«
Ein weiteres, nur wenig anders gelagertes Beispiel: Heinz, ein Sechsjähriger mit großem Interesse für Autos, hat seinem Vater gut zugeschaut. Eines Tages war es so weit: Er saß nur für einen Augenblick alleine im Auto, kletterte auf den Fahrersitz und löste die Handbremse...
Oder: Michael, vier Jahre alt, macht sich eifrig mit einem Schraubenzieher an der Stehlampe zu schaffen, wie er es erst vor kurzem bei seinem Vater beobachtet hatte. Gottlob kam seine Mutter rechtzeitig hinzu, um Schlimmes zu verhüten, denn die Stehlampe war diesmal unter Strom. Und die dreijährige Annika kommt in bewusstlosem Zustand in die Klinik. Sie war von den Großeltern, bei denen sie zu Besuch war, gegen Abend gefunden worden. Schon bald war klar, dass sie von den Schlaftabletten des Großvaters genommen hatte...
Der Beispiele wären viele, doch sollen diese genügen, um aufzuzeigen, dass wenn zwei das Gleiche tun, es noch lange nicht dasselbe ist. Allen Beispielen gemeinsam ist, dass das Kind genau das tat, was es beim Erwachsenen gesehen und abgeschaut hatte. Es konnte aber die Situation und die Folgen seines Tuns in keinem Fall einschätzen.
Alle hier angeführten Kinder waren – wenn auch in unterschiedlicher Reife – noch der magischen Stufe verhaftet und hatten damit eine Art»Bilderdenken«.
Die in der Illustrierten blätternde Mutter regt direkt zur Nachahmung an, aber in den drei anderen Beispielen ist es der Gegenstand – das Auto, die Stehlampe, die Pillenpackung –, der die Erinnerung an eine Handlungskette abruft. Das Kind ist inspiriert, weil es etwas weiß, das es durch Hinschauen gelernt hat. Vor seinem sechsten oder siebten Lebensjahr hat es in aller Regel noch nicht gelernt, eine Situation zuüberschauen, und kann daher die Folgen seines Tuns nur dann abschätzen, wenn es sie am eigenen Leib erfahren kann. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass sich das Kind auf der magischen Stufe an Erlebtesüber das Bild des Gegenstands erinnert undüber das Bild des Gegenstands zum Handeln angeregt wird. Es hat ein großartiges, aber eben ein bildgebundenes Gedächtnis.
Ein Beispiel: Julia kommt vom Kindergarten heim und berichtet, dass sie heute zusammen etwas gekocht hätten. Die Mutter will wissen, was, und Julia sagt nach kurzem Nachdenken: Würstchen und Reisbrei. Das kommt der Mutter komisch vor, doch Julia bleibt dabei, und so denkt die Mutter, es wird schon seine Richtigkeit haben. Abends gibt es zu Hause Pfannkuchen, und Julia sagt:»Das haben wir heute im Kindergarten gekocht.« Jetzt versteht die Mutter gar nichts mehr.»Was habt ihr heute denn noch alles im Kindergarten gekocht? Würstchen, Reisbrei, Pfannkuchen? Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?« Aber Julia beharrt ganz entschieden darauf, dass es Pfannkuchen waren, und sie wirdärgerlich, weil sie den Unglauben der Mutter wahrnimmt.
Die Erklärung für die Widersprüchlichkeit in Julias Aussagen liegt darin, dass sie sich nurüber das wirkliche Bild des Pfannkuchens wieder an das erinnern konnte, was es vormittags im Kindergarten wirklich gab, während Würstchen und Reisbrei für sie nur Bilder von Essbarem waren. Das zu verstehen und zu wissen ist deshalb so wichtig, weil die Erinnerung des Kindes durch alles in seiner Umgebung angeregt werden kann.
Der Erwachsene muss also denÜberblick behalten können und alles im Bewusstsein haben, was für sein Kind gefährlich werden könnte. Auch das Einführen von klaren Regeln, Ge- und Verboten zur rechten Zeit ist notwendig.»Das darfst du, und das darfst du nicht« und zwar in dem Sinne»Das darfst du schon, weil du schon so groß bist, und das darfst du noch nicht, weil du noch ein bisschen dazulernen musst!«.
Es gibt eben Dinge, die Kinder schon, und solche, die sie noch nicht tun dürfen, die dem Erwachsenen vorbehalten sind. Nicht weil man Autorität herauskehren will, sondern weil das Kind noch nicht reif dafür ist. Es ist auch ein Anreiz, groß und stark zu werden, an Weisheit und Verstand zuzunehmen und lernen zu wollen, denn man geht, wie Rilke es formuliert,&raq