: Alfred Brendel
: Wunderglaube und Mißtonleiter Aufsätze und Vorträge
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446246928
: 1
: CHF 10.80
:
: Musik, Film, Theater
: German
: 128
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Alfred Brendel versteht sich außer am Klavier auch sprachlich glänzend auszudrücken. In diesem Buch gibt der Musiker kritische Einblicke in die musikalische Praxis - insbesondere zu Beethovens und Schuberts Streichquartetten - und einen erhellenden Rückblick auf seine Plattenaufnahmen. Und der Leser Brendel interessiert sich für die Literaten des 18. und 19. Jahrhunderts. Lebhafte Beobachtungen eines großen Pianisten zu Musik, Literatur und Film - ergänzt um Gedanken des großen Dichters Jean Paul.

Alfred Brendel, 1931 in Wiesenberg/Nordmähren geboren, weltweit geschätzter Pianist, gilt als einer der bedeutendsten Interpreten klassisch-romantischer Musik des 20. Jahrhunderts. Als Schriftsteller ist er mit Essays und Gedichten hervorgetreten. Er ist u.a. Ehrendoktor der Universitäten von London, Oxford und Yale und lebt in London.

Meine Schallplattenaufnahmen.
Ein Rückblick


2013

 

Innerhalb der sechzig Jahre meines Pianistendaseins sehe ich als besondere Anomalie die ungewöhnlich große Zahl meiner Tonaufnahmen. Um zu erklären, wie sie zustande kamen, muß ich etwas weiter ausholen.

Wenn man dasübliche Bild einer erfolgreichen Karriere vor Augen hat– Wunderkind, frühe Begeisterungsstürme, verblüffende Spielsicherheit– dann war meine Entwicklung untypisch. Ich komme weder aus einem musikalisch aktiven oder auch nur musischen, osteuropäischen oder jüdischen, akademischen oder abenteuerlustigen Haus. Vor meinem fünfzehnten Jahr hatte ich noch kein Sinfoniekonzert, keinen Klavierabend und keine Opernaufführung erlebt. Sporadische Lichtblicke bot manchmal das Radio.

Seit meinem sechzehnten Lebensjahr arbeitete ich, vom Besuch kurzer Meisterkurse abgesehen, allein. In diese Arbeit waren damals auch das Komponieren, Malen und Schreiben mit eingeschlossen. Ludovika von Kaan, die Grazer Klavierpädagogin, entließ mich freundlich, riet mir zu einem ersten Klavierabend und knüpfte den Kontakt zu dem großen Pianisten Edwin Fischer. In den folgenden Jahren gab es drei Sommeraufenthalte in Luzern bei Fischer, einen bei Eduard Steuermann in Salzburg sowie wenige Kurzbesuche bei Paul Baumgartner in Basel. In Wien absolvierte ich die Staatsprüfung für Klavier, um meinen Eltern etwas vorzuweisen. Mein ersteröffentlicher Klavierabend als Siebzehnjähriger in Graz mit selbst ausgedachtem, ungewöhnlichem Programm (Die Fuge im Klavierwerk) hatte Erfolg, was meine Mutter, eine geborene Pessimistin, fürs erste besänftigte.

Erste Aufnahmen in Wien


In den fünfziger Jahren strömten kleinere amerikanische Schallplattenfirmen nach Wien, weil es sich dort besonders billig aufnehmen ließ. Meine erste Aufnahme fand im Januar 1951 statt. Kurz vor Weihnachten hatte ich ein Telegramm bekommen, das mich einlud, das fünfte Klavierkonzert von Prokofjew aufzunehmen. Ich hatte nie eine Note von Prokofjew gespielt, genauso wenig wie das Wiener Volksopernorchester, mit dem ich das Werk dann in zwei Sitzungen aufnahm. Der Dirigent war jung, freundlich und unerfahren. Kurz danach tauchte ein wesentlichälterer Herr namens Adler aus den Vereinigten Staaten auf, der sich darüber freute, daß er einmal mit einem kleinen Orchester Artur Schnabel als Solisten dirigieren durfte, was ihm in der lokalen Zeitung dieÜberschrift»Schnabel und Adler« einbrachte. Für seine winzige Firma wählte er aus einer langen Liste von Werken, die ich hingeschrieben hatte, Busonis»Fantasia contrappuntistica«. Busoni hatte mich schon frühzeitig als eine Künstlerfigur gefesselt, dieüber das Pianistische weit hinausreichte. Mit der Aufnahme von Liszts für seine Enkelin Daniela komponierter später Klaviersuite»Weihnachtsbaum« begann meine Beschäftigung mit dieser damals noch so gut wie unbekannten Musik, deren Noten ich in der Wiener Nationalbibliothek fotokopieren ließ.

DieVOX-Periode


Als nächster erschien GeorgeH. Mendelssohn, eine an den Filmschauspieler Adolf Wohlbrück erinnernde Gestalt, der mir als Präsident derVOX dannüber zehn Jahre lang eine Flut von Dingen zu spielen gab. Unter seinerÄgide verbrachte ich viele Stunden in den Sälen des Wiener Konzerthauses oder Musikvereins, in denen die meisten Aufnahmen stattfanden. Ich erinnere mich zunächst an ein Programm mit russischer Klaviermusik: Strawinskys»Petruschka«, Balakirews»Islamey« und Mussorgskys»Bilder einer Ausstellung«. Während des Studiums der»Petruschka-Suite« ersann ich die Methode, Hansaplastüber meine Fingerkuppen zu kleben, um das Splittern der Fingernägel zu verhindern. Dann gab es, abgesehen von mindestens sieben Liszt-Platten, meine ersten Aufnahmen von Mozart-Konzerten und die Gesamtaufnahme von Beethovens Klavierwerken, die sichüber fünf Jahre hinzog. (Die FirmaVOX hat als erste die Idee realisiert, sogenannteVOX-Boxen von Langspielplatten herauszubringen, die ganze Serien von Werken eines Komponisten enthielten.)

Nur weniges von Beethovens Klaviermusik, wie die kindlichen Variationenüber einen Marsch von Dreßler, habe ich weggelassen. Zuerst spielte ich alle kleineren Variationenwerke ein, Nebenwerke, die dennoch die Kenntnis Beethovens wesentlich ergänzen. Die Aufnahme der 32 Sonaten wurde zufällig am 5. Januar 1963, also an meinem 32. Geburtstag, abgeschlossen, allerdings nicht mit den späten Sonaten, die ich schon Ende der fünfziger Jahre eingespielt hatte. Daneben entstanden meine ersten Schubert-Aufnahmen: Impromptus,»Moments musicaux«, die drei nachgelassenen Stücke und die Wandererfantasie, ein Werk, das ich ebenso wie Liszts h-Moll-Sonate seit meinen Jünglingstagen im Repertoire hatte. Nicht vergessen sei da