: Agatha Christie
: Karibische Affäre Ein Fall für Miss Marple
: Atlantik Verlag
: 9783455170238
: 1
: CHF 8.80
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Natürlich, die karibische Sonne tut ihren vom Rheuma geplagten Gliedern gut, ansonsten aber langweilt sich Jane Marple fürchterlich in der Karibik. Doch dann wird Major Palgrave, einer der Hotelgäste ermordet. Noch am Vortag hat er Miss Marple ein mysteriöses Foto zeigen wollen. Nun ist er tot und das Foto unauffindbar. Wer hatte ein Interesse an seinem Tod? Warum verhalten ich die anderen Gäste so seltsam? Eines ist sicher: Über Langeweile kann Miss Marple sich nicht mehr beschweren.

Agatha Christie begründete den modernen britischen Kriminalroman und avancierte im Laufe ihres Lebens zur bekanntesten Krimiautorin aller Zeiten. Ihre beliebten Helden Hercule Poirot und Miss Marple sind - auch durch die Verfilmungen - einem Millionenpublikum bekannt. 1971 wurde sie in den Adelsstand erhoben. Agatha Christie starb 1976 im Alter von 85 Jahren.

2Miss Marple zieht Vergleiche


I


An jenem Abend ging es im Golden Palm Hotel sehr beschwingt zu.

Miss Marple saß an ihrem kleinen Tisch in der Ecke und schaute sich interessiert um. Der Speisesaal war ein großer, auf drei Seiten offener Raum, durch den die warme, dufterfüllte Luft der Westindischen Inseln streichen konnte. Auf den Tischen standen kleine Lämpchen, alle in gedämpften Farben. Die meisten Damen trugen Abendkleider: Leichte, bunte Baumwollkleider, die ihre gebräunten Schultern und Arme frei ließen. Miss Marple war von der Frau ihres Neffen, Joan, in sehr zartfühlender Weise gedrängt worden, doch»einen kleinen Scheck« anzunehmen.

»Weißt du, Tante Jane, dort drüben wird es ziemlich heiß sein, und ich vermute, dass du keine leichten Kleider hast.«

Jane Marple hatte ihr gedankt und den Scheck angenommen. Sie war in einer Zeit aufgewachsen, in der die Alten es normal fanden, die Jungen zu unterstützen, aber ebenso die Menschen in mittleren Jahren, für die Alten zu sorgen. Sie konnte sich allerdings nicht dazu durchringen, etwas wirklichLeichtes zu kaufen! In ihrem Alter war ihr selbst bei heißestem Wetter selten mehr als angenehm warm, und die Temperaturen auf St. Honoré waren nicht so hoch, dass man von»tropischer Hitze« sprechen konnte. An jenem Abend war sie nach bester Tradition einer englischen Dame vom Land gekleidet – in graue Spitze.

Sie war keineswegs die einzigeältere Person im Raum. Sämtliche Altersgruppen waren vertreten.Ältere Großindustrielle mit ihren jungen dritten und vierten Gattinnen. Paare mittleren Alters aus Nordengland. Eine fröhliche Familie aus Caracas mit einer ganzen Kinderschar. Auch die verschiedenen Länder Südamerikas waren gut vertreten, wie lebhaftes Stimmengewirr auf Spanisch und Portugiesisch verriet. Zwei Geistliche, ein Arzt und ein pensionierter Richter hatten einen soliden englischen Hintergrund. Sogar eine chinesische Familie war darunter. Die Bedienung im Speisesaal besorgtenüberwiegend Frauen, große, dunkelhäutige Mädchen mit stolzer Haltung, die strahlend weiß gekleidet waren, aber die Aufsicht führte ein erfahrener italienischer Oberkellner. Weiter gab es einen französischen Weinkellner, und auch Tim Kendal behielt alles wachsam im Auge. Er ging von Tisch zu Tisch und blieb hier und dort stehen, um ein paar freundliche Worte mit den Gästen zu wechseln. Seine Frau stand ihm kompetent zur Seite. Sie sah blendend aus. Ihr Haar war von Natur aus goldblond, und sie hatte einen großen, sinnlichen Mund, der gern lachte. Es kam nur sehr selten vor, dass Molly Kendal schlecht gelaunt war. Ihre Angestellten arbeiteten mit Begeisterung für sie, und sie stimmte ihr Verhalten sorgfältig auf ihre verschiedenen Gäste ab. Mit denälteren Herren lachte und flirtete sie, den jungen Frauen machte sie Komplimenteüber ihre Kleider.

»Oh, Sie tragen heute Abend ein umwerfendes Kleid, Mrs Dyson. Ich bin so neidisch, dass ich es Ihnen glatt vom Leib reißen könnte.« Dabei sah sie in ihrem Kleid selbst sehr gut aus, wie Miss Marple fand: einem weißen Etuikleid und einer blassgrünen Stola aus bestickter Seide um die Schultern. Lucky befühlte die Stola.»Wunderschöne Farbe. So eine hätte ich auch gerne.«»Sie bekommen sie in einem Geschäft ganz in der Nähe«, sagte Molly und ging weiter. An Miss Marples Tisch blieb sie nicht stehen.Ältere Damenüberließ sie im Allgemeinen ihrem Mann.»Die alten Tantchen haben viel mehr Freude an einem Mann«, pflegte sie zu sagen.

Tim Kendal kam zu Miss Marple und beugte sich zu ihr herab.

»Haben Sie einen besonderen Wunsch?«, fragte er.»Sie brauchen es nur zu sagen – ich könnte es extra für Sie zubereiten lassen. Hotelessen, und halb tropisches obendrein, ist nicht gerade das, was Sie von zu Hause her gewohnt sind, nicht wahr?«

Miss Marple meinte lächelnd, das gehöre zu den Freuden eines Auslandsaufenthalts.

»Umso besser. Aber wenn Sie doch irgendetwas Spezielles möchten …«

»Wie etwa?«

»Nun …« Tim Kendal sah sie ratlos an.»Brotpudding?«, schlug er aufs Geratewohl vor.

Schmunzelnd erwiderte Miss Marple, sie halte es im Augenblick sehr gut ohne Brotpudding aus.

Sie griff zu ihrem Löffel und begann vergnügt ihren Eisbecher mit Passionsfrüchten zu verspeisen.

Dann fing die Steelband an zu spielen. Die Steelbands gehörten zu den Hauptattraktionen der Inseln. Um die Wahrheit zu sagen: Miss Marple hätte sehr gut auf sie verzichten können. Sie fand, dass sie einen fürchterlichen, völlig unnötigen Lärm machten. Dass alle anderen an ihnen Vergnügen fanden, ließ sich jedoch nicht leugnen, und Miss Marple beschloss mit jugendlichem Sportsgeist, sich irgendwie mit ihnen anzufreunden, wenn sie sich schon nicht vermeiden ließen. Sie konnte von Tim Kendal schwerlich verlangen, von irgendwoher die gedämpften Klänge derBlauen Donau herbeizuzaubern. (Wie anmutig doch ein Walzer war!) Heutzutage tanzten die Leute auf eineäußerst merkwürdige Weise. Sie schüttelten und verrenkten die Glieder, dass man sich nur wundern konnte. Na ja, junge Leute sollten ihren Spaß haben… Ihr Gedankenfluss stockte. Denn wenn sie es recht bedachte, dann waren nur ganz wenige Leute hier tatsächlich jung. Der Tanz, die Lichter, die Musik einer Band (selbst einer Steelba