: Friedrich Christian Delius
: Ein Held der inneren Sicherheit Werkausgabe in Einzelbänden
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644520318
: Delius: Werkausgabe in Einzelbänden
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Roland Diehl, Ghostwriter und ironisch «Chefdenker» genannter Nachwuchsideologe im Verband der Menschenführer, erfährt eine totale Verunsicherung, als sein Chef entführt wird. Ohne ihn scheint ihm sein Karriereglück gefährdet. Vorübergehend löst sich Diehl aus seiner Rolle als cooler Interessenstratege und menschlicher Ideencomputer, um sich schließlich, befördert, in den neuen, alten Verhältnissen einzurichten. «Da ist Delius Meister: wie er die Sprache der Wirklichkeitslüge unterminiert und demaskiert.» (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt) Der erste Teil einer Chronik des Jahres 1977, des Wendepunkts der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte: «Eine bissige Revue, sie zeigt Scharfblick und Zugriff». (Süddeutsche Zeitung)

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Zwei


Vierabend will dir wieder was anhängen, eine Unverschämtheit. Der Schwung der Rede war weg, die Wörter trocken und schal, und dazwischen eine federnde Wut auf den Generalgeschäftsführer. Diehl kam sich eingeengt vor in der sauberen Öde des Büros, eingesperrt in die eigenen Formulierungen, in die sachliche subjektlose ermüdende Sprache, die keinen Schutz bot gegen persönlichen Angriff, gegen Ärger über dummen Verdacht. Alles kroch von ihm weg, Moos und Tina, Büttinger, Vierabend, alle zogen sich zurück.

Fast schon beleidigt saß er da und wollte sofort die Freundin bei sich haben, Tina sofort hier im Büro halb nackt, Haut fassen, warme Arme beim Umarmen, oder sie sollte einfach nur im Raum sitzen, den Ärger verjagen, ihn aufmuntern. Wenigstens reden mit ihr, wenn sich mit Moos schon nicht reden ließ. Am besten raus mit ihr über die Autobahn fegen und donnernden Rock von hinten auf die Ohren.

Tina war ganz nah, im gleichen Haus, eine der beiden Besucher-Hostessen, und doch nicht zu greifen, irgendwo unterwegs mit ihren Ausländern. Tina ganz nah weit weg irgendwo in Diehls Kopf, derzeitige Privat-Hostess des Chefdenkers. Sie trafen sich zwei- oder dreimal in der Woche in ihrer Wohnung oder in seinem Apartment und schliefen zusammen, und ab und an gestanden sie sich sicherheitshalber ihre Nicht-Liebe, ich mag dich, aber ich kann dich nicht lieben, ich liebe eine andere. Tina hatte, das war das Praktische an ihr, nie nachgebohrt, was denn mit dieser Amerikanerin sei. Sie ahnte, dass das seine Schutzbehauptung war. Denn auch sie wollte, solange sich kein aussichtsreicher Dauerpartner fand, ein kommodes Zweckbündnis, keine Gefühlsdebatten und komplizierten Ansprüche. Also wertete sie ihre kurze Begegnung mit einem Hamburger Tabak-Manager zur großen Liebe auf, ich liebe ihn, aber ich komm gern zu dir. Mit dieser Übereinkunft fühlten sie sich nun schon über ein Jahr zufrieden, don’t touch my feelings, touch me, fiepsten die Queen aus den Lautsprechern.

Was wollte er von ihr jetzt? Sie bei sich haben, sie zu fassen kriegen, Tür abschließen oder mit ihr hinaus, über Landstraßen, auf einer Wiese ficken, mit ihr reden, ich muss mit jemand reden.

Er rief an, obwohl er sicher war, sie nicht zu erreichen. Natürlich, Frau Schweizer auf Tour, wenn ich sie brauche. Sie zieht durchs Haus mit Arabern, erklärt weichgekochten Kommunisten und geilen Indern die Vorzüge der Marktwirtschaft, die Fragen aus Zaire und die Fragen aus Venezuela kennt sie auswendig, und für die Fragen aus Belgrad oder Peking Moskau hat sie immer den gleichen freundlichen Witz bereit, sie ist beliebt bei unsern Gästen, durch Führungen werden bleibende emotionale Bindungen ans Menschenführertum geschaffen, sie macht den Verband beliebt, sie kennt alle Komplimente auf ihr blondes Haar, jede Woche ein oder zwei Heiratsanträge von Mohren oder Gelben.

Diehl verirrte sich in Eifersuchtsgedanken, irgendwo macht jetzt wieder einer von diesen winzigen Japanern sein dünnlippiges Kompliment, oder einer der Schwarzen führt ihr ein vielversprechendes Augenrollen vor, kurz nach der Multi-Media-Show. Er wollte dazwischenfahren. Er überlegte, warum die Führungen nicht abgesagt waren wegen Büttinger. Warum ausfallen lassen, wir können die weitgereisten Leute doch nicht wegschicken, nur weil Büttinger nicht im Haus ist, Parole Weitermachen jaja.

Reg dich ab, Tina tut was für dich, für dein Ansehen, Tina kennen sie alle im Haus, Tina kommt in vielen Etagen rum, und inzwischen haben es auch die Letzten in den wenig besuchten Abteilungen gehört, dass Hostess Tina jetzt mit dem Diehl, das ist dir doch recht. Das ist mehr als das schicke Büroverhältnis, das sie alle haben oder sich wegen Mangel an Frauen nur wünschen, Tina ist mehr als eines der Schreibmädchen, die bestenfalls sexy genannt werden, mehr als die studierten Sachbearbeiterinnen, die h