: Jakob Wassermann
: Romantrilogie: Der Fall Maurizius + Etzel Andergast + Joseph Kerkhovens dritte Existenz Geschichte eines Justizirrtums und Familienkonflikte
: e-artnow
: 9788026817758
: 1
: CHF 1.80
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 560
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieses eBook: 'Romantrilogie: Der Fall Maurizius + Etzel Andergast + Joseph Kerkhovens dritte Existenz' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Jakob Wassermann (1873-1934) war ein deutsch-jüdischer Schriftsteller. Er zählte zu den produktivsten und populärsten Erzählern seiner Zeit. In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren gewann Wassermann Weltruhm mit mehreren Romanen, die eine Neigung zum Sensationellen aufweisen. In der Überzeugung, er könne durch Literatur ein neues Menschentum fördern, kämpfte Wassermann gegen jede Form von Trägheit des Herzens und für den Triumph der Gerechtigkeit. Dieses Vorhaben bildet auch den Kern von Wassermanns berühmtesten Prosawerk Der Fall Maurizius (1928), in dem der sechzehnjährige Etzel Andergast in jugendlicher Überschwänglichkeit einen Justizirrtum aufdeckt, der achtzehn Jahre zuvor begangen wurde. Irrtümlich wurde das Werk lange Zeit als Reflex des Falles Hau angesehen. Als lose Fortsetzungen dieses virtuosen Romans können zwei weitere Werke gelten: Etzel Andergast (1931) und Joseph Kerkhovens dritte Existenz (postum 1934). Theodor Lessing schrieb im Zusammenhang mit dem Fall Halsmann: 'Nur ein einziger, Jakob Wassermann, der das schönste aller Gerechtigkeitsbücher, die Geschichte des jungen Etzel schuf, erklärte öffentlich, daß er nicht rasten wolle, bis ihm die Rehabilitierung des offenbar verunrechteten Halsmann geglückt sei.' Inhalt: Der Fall Maurizius Etzel Andergast Joseph Kerkhovens dritte Existenz

Zweites Kapitel


1

Unlöslich vermengte sich in Etzels Geist die Erscheinung des Mannes mit der Kapitänsmütze, besonders das unerwartete und dabei planvoll wirkende Zusammentreffen mit dem Vater auf der Treppe und das Bild des Briefes mit dem Schweizer Poststempel und der vertraut zu ihm redenden Handschrift. In beiden Geschehnissen forderte ihn etwas auf oder heraus; der Unterschied lag nur darin, daß jenes ganz außen, dieses ganz innen blieb, so daß er sich zwischen ihnen wie ein schwingendes Pendel vorkam. Beides aber verwirrte ihn tief und zog seine Gedanken von der gewöhnlichen Beschäftigung und dem täglichen Pflichtendienst dermaßen ab, daß er eines Vormittags, statt mit dem mechanischen Gedächtnis der Beine den Weg zum Gymnasium einzuschlagen, in die entgegengesetzte Richtung ging, immer weiter, wie traumverloren, im Bockenheimer Bahnhof seinen Bücherpack deponierte und in den Taunus hinausfuhr. In Oberursel verließ er den Zug, wanderte gegen die Saalburg, kümmerte sich schließlich um Ziel und Straße nicht mehr und irrte im Wald umher, ohne auf den Sturm und die zeitweise niederprasselnden Regengüsse zu achten. Wenn es zu arg wurde, suchte er Schutz unter einem Baum oder in einer Holzfällerhütte. Wie traumverloren; aber eben nur»wie«. Wir haben es hier mit keinem Träumer zu tun, in keiner Weise, das muß vor allem festgestellt werden. Er hatte seine fünf Sinne ausgezeichnet beieinander. Er wußte, was er tat, er wurde mit den Dingen ohne viel Federlesens fertig, er schwindelte sich nichts vor, er hatte die Uhr im Kopf und die Zeit in den Fingerspitzen (Beweis dafür: um ein Uhr fünfzehn erschien er pünktlich wie immer, gewaschen und angezogen, am Mittagstisch). Mit einer Sache fertig werden, und zwar mit dem Verstand fertig werden, mit sich ins reine kommen, Ursache und Folgeüberblicken, Schluß machen können, das war sein Ehrgeiz, darinübte er sich bei jeder Gelegenheit. Das wollte er auch hier, das trieb ihn hinaus. Aber es mißlang in diesem Fall, die Verwirrung war zu groß.

Am nächsten Abend, bei dem obligaten Gespräch mit dem Vater, merkte er, daß dieser sich anders gab. Es war nicht recht zu ergründen, in welcher Art, auch nicht, was er beabsichtigte; seine Absichten und Zwecke konnten, wenn er sie verbergen wollte, höchstens von einem Hellseher durchschaut werden. Er war freundlicher als sonst, ja, er hatte etwas Zuvorkommendes in seinem Wesen; zum Beispiel reichte er Etzel die Käseplatte zweimal und erkundigte sich lächelnd, ob er sich nicht demnächst die Haare scheren lassen wollte. Sofort war es Etzel klar, daß er von dem Vormittagsausflug und dem Wegbleiben von der Schule wußte und daß es deswegen zu einer jener versteckten Auseinandersetzungen kommen würde, die ihm ein Schrecken waren. Mit Sicherheit konnte man es nicht erwarten, schlimmer noch, wenn es in Schweigen gehüllt als Drohung zwischen ihnen blieb. Das war dann sogenanntes Material. Herr von Andergast legte sichtlich alles darauf an, daß Etzel selbst davon zu sprechen begann; er lud ihn durch seine Milde gleichsam dazu ein; aber je mehr er sich bemühte, je unbehaglicher wurde dem Knaben zumut, er verstummte schließlich und schaute gespannt, fast ohne mit den Lidern zu zucken, in das imponierende, für ihn so unaufschließbare, stets das Gefühl der Unzulänglichkeit in ihm erregende Gesicht auf der andern Seite des Tisches. Es war ihm nicht möglich zu tun, was unter so starkem moralischem Druck, obschon wortlos, von ihm verlangt wurde; er hätte es ja dann gestern schon tun können. Warum er es nicht getan und esüberhaupt nicht vermochte, wußte er nicht. Da half kein Mut, kein Argument. Indem er dem Vater in befremdlicher, diesen aber anscheinend gar nicht weiter störender Weise ins Gesicht starrte, zerbrach er sich nur den Kopf darüber, wie er von dem Ausflug so schnell erfahren haben konnte (vom Ordinarius sicherlich nicht; Dr. Camill Raff hatte nicht die Gewohnheit, bei jeder Kleinigkeit Lärm zu schlagen; außerdem schonte er Etzel gern; die Rie hatte sein Heimkommenüberhaupt nicht bemerkt), ferner, weshalb er ihm das Geständnis auf lauter Umwegen zu entlocken trachtete, statt einfach zu fragen und ihn zur Rede zu stellen. Das war ihm freilich nicht neu. Einfach war nichts in ihrem gegenseitigen Verhältnis; wenn er darüber nachdachte, wurden sogar die Gedanken verzwickt.

Hier muß ich aber, damit in die Beziehung zwischen Vater und Sohn einiges Licht fällt, zuerst erklären, was unter dem»obligaten Gespräch« zu verstehen ist.

2

Sie sahen einander nur im Hause. Herr von Andergast, beruflich bis zurÜberlastung beansprucht, unternahm weder Spaziergänge noch besuchte er Theater und Konzerte. Er zeigte sich ungern in derÖffentlichkeit; außer mit einigen engeren Amtskollegen, zum Beispiel dem Landgerichtspräsidenten Sydow und dessen Familie, pflog er fast keinen gesellschaftlichen Verkehr. Geselligkeit war ihm kein Bedürfnis. Offizielle Veranstaltungen, denen er sich nicht entziehen konnte, empfand er als Last. Einmal im Monat besuchte er seine alte Mutter, die Generalin, wie sie kurz genannt wurde, in ihrem Landhaus draußen in Eschersheim. Die Sonn- und Feiertagsnachmittage waren dem Studium aufgesammelter Akten gewidmet.

Mit Etzel täglich zwei Stunden zu verbringen, war jedoch eine Lebenseinrichtung, genau wie das Aktenstudium. Das Programmatische daran, zugleich erzieherische Maßregel, zu verwischen, gehörte zu den gestellten Aufgaben. Es kamen nur die Abendstunden in Betracht. Während des Mittagessens, das ohnehin wegen amtlicher Verhinderung häufig entfiel, waren sie einander gerad