: Honoré de Balzac
: Das Chagrinleder: Valentins Pakt mit dem Teufel Die tödlichen Wünsche
: e-artnow
: 9788026819110
: 1
: CHF 1.80
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 370
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieses eBook: 'Das Chagrinleder: Valentins Pakt mit dem Teufel' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Das Chagrinleder oder Die tödlichen Wünsche (La Peau de chagrin) ist ein Roman von Honoré de Balzac. Balzac beschreibt darin die französische und besonders die Pariser Gesellschaft gegen Ende der Restauration und zu Beginn der Julimonarchie. Der Roman besteht aus den drei Teilen Le talisman (Der Talisman), La femme sans c?ur (Die herzlose Frau) und L'agonie (Der Todeskampf). Hauptfigur ist der junge Raphaël de Valentin, von adliger Geburt, jedoch verwaist und verarmt, der sich immer erträumt hat, ein Schriftsteller zu werden und sich seiner Künstlernatur widmet. Er befindet sich in einer Krise und verspielt seine letzte Goldmünze im Palais Royal. Honoré de Balzac (1799-1850) war ein französischer Schriftsteller. Balzacs Erzählweise gilt in der Literaturgeschichte als prototypisch für den traditionellen Roman 'à la Balzac', d. h. einen Roman mit interessanten, nicht eben Durchschnittstypen verkörpernden Protagonisten, einer interessanten und mehr oder minder zielstrebigen Handlung sowie einem eindeutigen Vorherrschen der auktorialen Erzählsituation. Mit seiner relativ ungeschminkten Darstellung der gesellschaftlichen Realität prägte Balzac Generationen nicht nur französischer Autoren und bereitete den Naturalismus vor.

Die Frau ohne Herz


Inhaltsverzeichnis


Nach einem kurzen Schweigen sagte Raphael leichthin:»Ich weiß wahrhaftig nicht, ob ich dem Dunst des Weins und des Punsches die Klarheit zuschreiben soll, die mich in diesem Augenblick mein ganzes Leben in einem einzigen Gemälde erschauen läßt, auf welchem die Gestalten, die Farben, die Lichter, die Schatten und Halbschatten getreulich wiedergegeben sind. Dies poetische Spiel meiner Einbildungskraft würde mich nicht in Erstaunen setzen, wenn es nicht von einer gewissen Verachtung für meine vergangenen Schmerzen und Freuden begleitet wäre. Aus der Entfernung betrachtet, ist mein Leben durch ein geistiges Phänomen wie zusammengeschrumpft. Dieser lange, schleichende Schmerz, der zehn Jahre gedauert hat, läßt sich heute durch ein paar Sätze wiedergeben, in denen der Schmerz nur noch ein Gedanke und die Freude eine philosophische Betrachtung ist. Ich urteile, statt zu empfinden...«

»Du bist langweilig wie ein Zusatzantrag, der im Parlament diskutiert wird«, warfÉmile ein.

»Kann sein«, erwiderte Raphael ohne Murren;»so will ich dir, um deinen Ohren nicht allzuviel zuzumuten, die ersten siebzehn Jahre meines Lebens schenken. Bis dahin habe ich gelebt wie du, wie tausend andere, das Leben eines Schülers, dessen eingebildete Leiden und wirkliche Freuden unsere Erinnerung entzücken und nach dessen Fastenspeise unser verwöhnter Gaumen stets zurückverlangt, solange wir sie nicht von neuem genossen haben: schönes Leben, dessen Arbeiten uns verächtlich scheinen und das uns doch zu arbeiten gelehrt hat...«

»Komm zum Drama!« sagteÉmile in einem halb komischen, halb klagenden Ton.

»Als ich das Collège verlassen hatte«, erwiderte Raphael und bekundete mit einer entschiedenen Handbewegung das Recht fortzufahren,»unterwarf mich mein Vater einer strengen Disziplin, er logierte mich in einem Zimmer ein, das neben seinem lag. Ich ging um neun Uhr abends zu Bett und stand um fünf Uhr morgens auf; nach seinem Willen sollte ich gewissenhaft die Rechte studieren. Ich besuchte die juristische Fakultät und arbeitete gleichzeitig bei einem Advokaten; aber die Gesetze von Zeit und Raum wurden so peinlich auf meine Ausgänge, meine Arbeiten angewendet, und mein Vater verlangte solch genaue Rechenschaftüber ...«

»Was geht denn mich das an?« unterbrach ihnÉmile.

»Nun denn, hol dich der Teufel!« erwiderte Raphael.»Wie kannst du meine Gefühle begreifen, wenn ich dir nicht all die unbedeutenden Umstände schildere, die meine Seele beeinflußten, mich furchtsam werden ließen und mich lange in der kindlichen Einfalt des Jünglings befangen hielten? Bis zu meinem einundzwanzigsten Jahr hatte ich mich einem Despotismus zu beugen, der so hart war wie eine Klosterregel. Um dir das ganze Elend meines damaligen Lebens begreiflich zu machen, genügt es vielleicht, dir meinen Vater zu beschreiben: Er war ein großer, dürrer, engbrüstiger Mann mit einem bleichen Gesicht, scharf geschnitten wie eine Messerklinge, kurz angebunden, zänkisch wie eine alte Jungfer und kleinlich wie ein Bürovorsteher. Seine Vaterwürde schwebte drohendüber meinen schelmischen und fröhlichen Gedanken und hielt sie wie unter einer bleiernen Kuppel gefangen. Wenn ich ihm ein liebevolles, zärtliches Gefühl bezeigen wollte, behandelte er mich wie ein Kind, das eine Dummheit sagen will; ich fürchtete ihn weit mehr als früher unsere Schulmeister; in seinen Augen war ich immer acht Jahre alt. Ich glaube ihn noch vor mir zu sehen. In seinem kastanienbraunenÜberrock, in dem er sich geradehielt wie eine Osterkerze, sah er wie ein Bückling aus, der in das rötliche Papier eines Pamphlets gewickelt ist. Trotzdem liebte ich meinen Vater: im Grunde war er gerecht. Vielleicht hassen wir die Strenge dann nicht, wenn sie durch einen aufrechten Charakter, durch reine Sitten gerechtfertigt und geschickt mit Güte verbunden wird. Obgleich mein Vater nie von meiner Seite wich, mir bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr keine zehn Francs zu meiner Verfügung ließ, zehn elende, lumpige Francs, ein unermeßlicher Reichtum, deren vergebens erhoffter Besitz mich maßlos beglückt hätte, so suchte er mir wenigtens einige Zerstreuungen zu verschaffen. Nachdem er mir monatelang ein Vergnügen versprochen hatte, führte er mich in die Bouffons, in ein Konzert, auf einen Ball, wo ich eine Geliebte zu finden hoffte. Eine Geliebte! Das hieß für mich Unabhängigkeit. Aber verschämt und schüchtern, wie ich war, weder die Sprache der Salons noch irgend jemanden dort kannte, kehrte ich stets mit demselben unerfahrenen, von unerfüllten Wünschenübervollem Herzen wieder nach Hause zurück. Am nächsten Morgen mußte ich dann, von meinem Vater wie ein Schwadronspferd an der Kandare gehalten, von früh an erst zu einem Advokaten, dann in die Fakultät, dann in den Justizpalast. Hätte ich versucht, von dem einförmigen Weg, den mein Vater mir vorgezeichnet hatte, abzuweichen, hätte ich seinen Zorn auf mich geladen; er hatte mir gedroht, mich bei meinem ersten Vergehen als Schiffsjunge nach den Antillen einzuschiffen. Wenn ich dennoch gelegentlich wagte, mich dieser Gefahr auszusetzen, auf ein oder zwei Stunden, für irgendein harmloses Vergnügen, so stand ich furchtbare Angst dabei aus. Stell dir vor, die schwärmerischste Phantasie, das liebevollste Herz, das zärtlichste Gemüt, den poetischsten Geist immerfort dem unnachgiebigsten, sauertöpfischsten, kältesten Menschen der Welt ausgesetzt; kurzum, verheirate ein junges Mädchen mit einem Skelett, und du wirst die merkwürdigen Szenen eines solchen Daseins verstehen, die ich dir nur andeuten kann: Fluchtpläne, die beim Anblick meines Vaters zunichte