Kapitel 1
Dr. Carola Pütz nahm ihren Mantel vom Kleiderbügel und schloss die schwere, alte Holztür ihrer Eigentumswohnung sorgsam hinter sich zu. Der Haustürschlüssel fiel schwer in ihre rechte Hosentasche. Auf dem Treppenabsatz zog sie den Schal aus dem Ärmel des Mantels, schlang ihn sich leger um den Hals und schlüpfte etwas ungelenk in den Mantel. Langsam ging sie Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Nach ihrem Krankenhausaufenthalt war sie noch nicht restlos wiederhergestellt. Ihr linker Arm schmerzte noch von der Infusionsnadel, durch die sie mit einem blutverdünnenden Mittel versorgt worden war.
Nach ihrem Herzinfarkt war sie gestern aus der Bonner Klinik auf dem Venusberg entlassen worden und nach Frankfurt heimgefahren. Besser gesagt, sie wurde gefahren. Ihre Kollegin Dr. Beisiegel, eine Bonner Gerichtsmedizinerin, hatte darauf bestanden. Sie hatte sie beinahe jeden Tag dort in der Klinik besucht.
Vierzehn Tage lang. Nach anfänglichem Zögern hatte sie dem bohrenden, fragenden Blick ihrer Kollegin nachgegeben und ihr erzählt, was in der Nacht in dem Bonner Hotel passiert war, woran sie sich erinnern konnte. Sie erzählte von dem Traum, in dem ihr eine tote, blinde Gestalt um den Hals gefallen und sie umgerissen hatte.
Durch den Traum aufgeschreckt, hatte sie dann halluziniert und die Tote neben sich auf dem Bett sitzen sehen. Die Tote lachte sie auch noch aus. Um wieder zu sich zu kommen, wollte sie duschen, dort war sie schließlich zusammengebrochen. Ihr Herz hatte beschlossen, Schluss zu machen, doch sie hatte richtig Glück gehabt, der Infarkt war nicht stark. Wäre er stärker gewesen, sie hätte die Nacht nicht überlebt. Erst vier Stunden nach dem Zusammenbruch wurde sie von der Putzfrau gefunden.
Dr. Beisiegel war von Beruf aus neugierig.
»Und wieso haben Sie das Rohypnol genommen?«, hatte sie gefragt. Dr. Pütz hatte versucht, der Antwort auszuweichen, jedoch ohne Erfolg.
»Carola«, hatte Dr. Beisiegel gesagt, »wir kennen uns jetzt über zwanzig Jahre. Denkst du nicht, ich hätte ein wenig Ehrlichkeit verdient?« Sie hatte ihre alte Studienkollegin bewusst geduzt.
»Ja, das ist wohl so.«
Daraufhin hatte sie ihr endlich erzählt, dass sie seit einiger Zeit an einer Zwangsstörung litt. Sie hatte einen Zählzwang. Sie musste Dinge zählen, egal was, egal wann. Menschen in einem Raum, Knöpfe an einem Jackett, Fliesen auf dem Boden, Instrumente auf einem Laborwagen, alles. Immer. Es war ein Fluch.
Jetzt empfand sie es als eine wahnsinnige Befreiung, es endlich jemandem erzählt zu haben. Warum hatte sie es so lange für sich behalten? Nur ihr Therapeut in Frankfurt wusste davon. Ihre Angst, dass man sie als Wissenschaftlerin nicht mehr für voll nehmen würde, war zu groß gewesen. Aber jetzt? Sie war immer noch Doktor Pütz, die Forensikerin. Mit einem neuen ‚Selbst‘. Und es stand ihr frei, es anzunehmen.
Carola trat hinaus auf die Straße, es dämmerte bereits. Vier Uhr nachmittags. Im November bedeutete das noch eine knappe halbe Stunde Tageslicht, dann wurde es dunkel. Bis dahin wollte sie wieder in ihrer Wohnung sein. Nicht, weil es in ihrem Stadtteil nicht sicher war. Nein, sie fühlte sich dann draußen einfach nicht mehr wohl.
Sie ging langsam die Straße hinunter, ihre Gedanken ließen das Geschehen der letzten Wochen weiter Revue passieren. Sie hatte sich auf dem Weg nach Hamburg befunden, um