Prolog
Es war ein regnerischer Sonntag und damit eigentlich kein Tag, an dem Anke Thomas ihre Wohnung verließ. Normalerweise pflegte sie an ihren freien Tagen das Ritual, ihre Beine hochzulegen und bei einer Tasse Tee den Nachmittagsklatsch im Fernsehen anzuschauen. Aber heute war sie doch aufgestanden. Die Umstände verlangten es so.
Auf der Straße befanden sich trotz des schlechten Wetters jede Menge Menschen. Mit der schwarzen Kleidung, die eigentlich so gar nicht ihr Stil war, fiel Anke noch mehr auf, als sie es sonst tat. Aber auch diese Sache wurde von den Umständen gefordert. Zwar war es schon lange keine Mode mehr – in Ankes Familie hatte man jedoch schon immer schwarze Kleidung getragen, wenn jemand gestorben war.
Die Straße, in die dieältere Frau nun einbog, lag in einer Gegend, in der sie noch nie zuvor gewesen war. Sie war verschrien als eine Ecke der Stadt, in der viele Verbrechen passierten, und Anke drückteängstlich ihre Handtasche an sich. Sie hatte hierüberhaupt nicht hingewollt, und wieder einmal fragte sie sich, warum man sie herbeordert hatte.
Vor einem großen, backsteinfarbenen Gebäude blieb Anke stehen, rückte unsicher ihre runde Brille zurecht. Nummer 44. Hier war sie richtig, diese Adresse hatte der Mann am Telefon ihr genannt. Auf dem großen, weißen Schild neben der Tür war zu lesen, dass es sich um ein Therapiezentrum handelte. Eigentlich hatte Anke große Lust, sich einfach wieder umzudrehen, den weiten Weg nach Hause zu laufen und diese Sache zu vergessen, wie sie es schon die ganze Zeitüber versucht hatte. Und es wäre ihr sicher auch gelungen, wäre nicht besagter unheilvoller Anruf gekommen. Hier stand sie nun, unsicher, was sie tun sollte.
In diesem Moment ging die dunkle Metalltür auf, und ein Mann trat aus dem Gebäude. Er war jünger als Anke, vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig. Seine Augen waren müde und wiesen tiefe Spuren schlafloser Nächte auf, vieler schlafloser Nächte. Auch sein Dreitagebart und sein nicht mehr so frisch wirkendes Hemd zeugten davon, dass er wohl keine Gedanken an die alltäglichen Dinge verschwendete.
Auch wenn es Anke wahnsinnig widerstrebte, einen derart schmuddeligen Menschen anzusprechen, der noch dazu aus einem solchen Gebäude herauskam, ging sie ein paar Schritte auf ihn zu.
Das Klacken ihrer Schuhe auf dem Asphalt verriet sie, und der Mann hob den Kopf. Seine wasserblauen Augen sahen unendlich traurig aus, auch wenn er sich jetzt an einem gezwungenen Lächeln versuchte.»Kann ich Ihnen helfen?«
Seine Stimme klang, wie Anke vermutet hatte: rau, angespannt und genauso traurig, wie es seine Augen waren. Aber das Wichtigste war, dass sie seine Stimme erkannte.
»Davon gehe ich aus«, antwortete Anke und konnte einen leicht pikierten Unterton nicht unterdrücken.»Ich denke, ich gehe richtig in der Annahme, dass wir telefoniert haben, oder? Sie sind doch Herr Karen?«
Schon leuchtete etwas in den Augen des Mannes auf.»Ja, da haben Sie Recht. Dann müssen Sie … Johannas Tante sein, nicht wahr?«
Sofort, um noch mehr unheilvollen Begegnungen vorzubeugen, schrieb Anke ein unsichtbares Kreuz in die Luft vor ihrem Gesicht. Dann zischte sie scharf:»Anke Thomas. Sie wollten mich sprechen?«
Etwas verwirrt wirkend von ihrer kalten Art nickte Herr Karen.»Ja, das ist richtig. Aber lassen Sie uns solche Dinge nicht hier draußen besprechen.« Er warf die Zigarette, die er sich eben angezündet hatte, auf den Boden und trat sie gedankenversunken aus, auch wenn sie mitten in einer Pfütze gelandet war. Dann lächelte er unsicher.»Wenn Sie mir bitte folgen möchten, Frau Thomas?«
»Eigentlich nicht, aber was bleibt mir denn jetzt noch für eine Wahl?«, brummte Anke und stolzierte hochnäsig durch die aufgehaltene Tür.
Im Inneren trat man sofort in kleines Wartezimmer, in dem ein paar Menschen auf bunten Plastikstühlen saßen, in Zeitschriften blätterten und aufsahen, als sie eintrat.
Anke Thomas wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als die Zeit zurückdrehen zu können. Hätte sie diesen Anruf doch nur ignoriert! Wäre sie doch gar nicht erst ans Telefon gegangen, als es an ihrem freien Tag geklingelt hatte! Wenn die Leute aus ihrer Nachbarschaft hörten, dass sie sich an einem Sonntagnachmittag in einer Nervenheilanstalt aufhielt … was würden sie reden! Wahrscheinlich würde jeder denken, dass sie aufgrund des Todes ihrer Nichte nicht mehr ganz richtig im Kopf war, und Anke wollte sich gar nicht vorstellen, was das für furchtbare soziale Folgen nach sich zog!
»Hier entlang, Frau Thomas…« Herr Karen wies ihr die Richtung und lief dann den Flur entlang.
Anke Thomas schnaubte. Gut, der Typ hatte wenigstens ein paar Manieren. Leiden konnte sie ihn trotzdem nicht, immerhin war er schuld an ihrer derzeitigen Misere. Mit kleinen, aber energischen Schritten folgte sie ihm, nicht ohne den Menschen im Wartezimmer noch einen abschätzigen Blick zuzuwerfen. Armes, geisteskrankes Gesindel!
Herr Karen steuerte ein kleines Büro am Ende des Ganges an,öffnete die Tür und ließ Anke hinein. Sie sah sich einen Augenblick um, auch wenn es in diesem spärlich eingerichteten Zimmer