Mutmaßungen über den Amoklauf
»Von dem Vulkan, der in mir brütet und kocht,
hat kein Mensch eine Ahnung.«
Aus den Memoiren des Hauptlehrers und Amokläufers Ernst Wagner
Der Kenntnisstand über das Phänomen Amok ist immer noch dürftig, obwohl man sich von Seiten der Wissenschaft seit Jahrzehnten darum bemüht, sein Geheimnis zu lüften. Als Begründung wird darauf verwiesen, die Taten seien für systematische Untersuchungen zu selten, die Täter nach der Tat meist tot oder schwer verletzt und, wenn sie überlebten, in Gefängnissen oder forensischen Psychiatrien untergebracht, wo sie wissenschaftlichen Untersuchungen nur schwer zugänglich seien. Wir stoßen hier auf die typische Selbstbeschränkung einer Wissenschaft, die da, wo ihr empirische Fakten und Daten fehlen, resigniert, statt auf die Kraft der Reflexion und einer begrifflich gezügelten Empathie zu setzen. »Die Wissenschaft denkt nicht«, hat Heidegger lakonisch bemerkt. Künstlerische Versuche, sich des Themas anzunehmen, wie etwa Rainer W. Fassbinders Film:Warum läuft Herr R. Amok?, in dessen Zentrum ein kleiner Angestellter steht, der an der sterilen Normalität seines Lebens verzweifelt, essayistische Annäherungen von Karen Duve, Hans-Joachim Neubauer oder Gabriele Goettle, die Romane von Emmanuel Carrère:Amok, Marc Höpfner:Pumpgun und Lionel Shriver:Wir müssen über Kevin reden, bringen womöglich mehr über die verborgene Wahrheit des Amok zum Vorschein, als die dürren Fakten, welche die Wissenschaft uns bis heute zu bieten hat.
Zudem ist es äußerst fraglich, ob mehr überlebende Täter die Datenbasis wirklich erweitern würden. Sie kennen ihre Motive oft ebenso wenig wie die verstörte Umgebung, und würden im Zweifelsfall nachplappern, was ihnen medial vorgegeben wird. Kennten sie ihre Motive, bräuchten sie die Tat wahrscheinlich nicht zu begehen. Auch Justiz und forensische Psychiatrie beißen sich an solchen Fällen fast immer die Zähne aus und stellen die Suche nach den Motiven irgendwann resigniert ein.
Inzwischen hat sich eine Definition von Amok durchgesetzt, die ihn als »intentionale und nach außen hin überraschende Tötung und/oder Verletzung mehrerer Personen bei einem Tatereignis ohne Abkühlungsperiode fasst, wobei einzelne Tatsequenzen im öffentlichen Raum stattfinden« (Jens Hoffmann). In Psychiatrielehrbüchern stößt man auf den BegriffAmok im Kapitel über den »erweiterten Selbstmord«, dem meist eine depressive oder wahnhafte Erkrankung zugrunde liege. Eine Antwort auf die Frage, warum sich ein Mensch, der es mit sich und der Welt aus irgendwelchen Gründen nicht länger aushält, nicht mit einem »einfachen Suizid« zufrieden gibt, sondern in seinen eigenen Abschied aus der Welt noch möglichst viele Fremde mit sich reißen möchte, liefert uns der rein deskriptive Begriff des »erweiterten Selbstmords« nicht. Zu jedem Suizid gehört eine gehörige Portion von Wut, aber die des Amokläufers scheint zu groß, als dass er sich mit seiner Selbstzerstörung zufrieden geben könnte. Der erweiterte Selbstmord des Amokläufers wäre dann zu verstehen als die Verzweiflungstat eines Menschen, dessen Leben in Folge von Unglücksserien mehr und mehr in den Bann eines ausufernden Hasses geraten ist. Im »Zeitalter des Narzissmus« (Christopher Lasch) wird man vermuten dürfen, dass immer mehr Suizidanten ein »einfacher Abgang aus der Welt« zu unspektakulär vorkommt und sie ihn stattdessen in ihren letzten großen Auftritt, in eine grandiose Mordorgie und letzte »Super-Show« verwandeln wollen. Zur Bezeichnung von Amoktaten an Schulen hat sich in der Folge des Columbine-Massakers in Forschung und Literatur der Begriff »School Shooting« durchgesetzt. Bis2007 geht man von ca.100 Fällen von »School Shooting« we