Viktor Frankl, der Begründer der so genannten Logotherapie, hatte früh der therapeutischen Engführung auf die Warum-Frage widersprochen. Er hatte die Wozu-Frage in den Vordergrund gestellt und damit die Frage nach dem Sinn. Wenn der Sinn dabei auch mitunter zu emphatisch beschworen wird, was die von ihm grundsätzlich durchaus respektierte Grenze zwischen Psychotherapie und Religion verschwimmen lässt, so haben seine originellen Ideen die heutige systemische Therapie doch vielfältig befruchtet. Frankl lenkte den Blick darauf, dass selbst ein Symptom in einem bestimmten Zusammenhang einen Sinn haben kann und dass es nicht weiterführt, in diesem Symptom stets bloß ein Defizit zu beklagen. Wie jemand selbst der verzweifelten und menschenverachtenden Situation im Konzentrationslager noch so etwas wie »Sinn« abgewinnen kann, das hat der Jude Viktor Frankl alsKZ-Häftling in Auschwitz und in drei anderen Lagern selbst erlebt und in seinem erschütternden Buch »Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager«[45] eindrucksvoll beschrieben: In den erniedrigendsten Situationen stellte er sich vor, dass er über diese gegenwärtigen Erlebnisse zukünftig in der Wiener Volkshochschule einen Vortrag halten würde. Damit gab er diesem scheinbar jeden Sinns spottenden Zustand aus eigener Kraft Sinn und bewahrte sich in tiefster Erniedrigung das Bewusstsein seiner unverlierbaren Würde. Er begab sich selbst in eine geistige Distanz von der Situation, der er körperlich nicht entfliehen konnte. Schillers lyrischer Jubel: »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd er in Ketten geboren …«,[46] wurde hier in der Prosa eines realen Lebens bewahrheitet. Auch der Humor, mit dem Frankl in der Therapie arbeitete, ermutigte zur Selbstdistanzierung, zu einer neuen Perspektive, die manches Elend in einem anderen nützlicheren Licht erscheinen ließ. Mehr ein genialer Erfinder als ein ruhiger Forscher, ersann Frankl viele Interventionsformen, die insbesondere systemische Therapeuten eifrig nutzen. So die »paradoxe Intervention«,[47] in der ausgerechnet das beklagte Symptom verordnet wird, darauf bauend, dass ein absichtlich »getanes« Symptom etwas ganz anderes ist als ein passiv erlittenes. Was man »tut«, kann man ändern, was man bloß erleidet, kann man nur ertragen. Wer wie Mara Selvini Palazzoli sogar im Defizit, in der Magersucht, Sinn zu sehen vermag, der wird überhaupt den Blick auf die Kräfte, die »Ressourcen«, des Patienten richten. Auf solche Weise wird er die Hoffnung auf die damit zu gestaltende Zukunft wecken, anstatt die Aufmerksamkeit immer wieder starr auf die defizitäre und nicht mehr zu ändernde Vergangenheit zu lenken. Sinn lebt aus einem Kontext, der andere Menschen stets mit im Blick hat. Schon ein weiterer früher Dissident der Psychoanalyse, Alfred Adler, hatte Familienkonstellationen für bedeutsam gehalten. So konnte die systemische Therapie bis in technische Details hinein aus einem reichen Reservoir an wichtigen therapeutischen Ideen und Erfahrungen schöpfen.
Dass diese neuen Sichtweisen in der Luft lagen, zeigt die Tatsache, dass schon vor Mara Selvini Palazzoli in den Vereinigten Staaten ähnliche Überlegungen angestellt wurden. Zwar hatte die Mailänder Therapeutin die theoretischen Arbeiten dieser so genannten Palo-Alto-Gruppe rezipiert. Der Weg beider Richtungen ist aber durchaus eigenständig. Gregory Bateson hatte dort in Kalifornien schon in den vierziger Jahren originelle Ideen entwickelt. Von1952 bis1962 war er Mitbegründer des Mental Research Institute in Palo Alto, dem sich später so bekannte Forscher wie Paul Watzlawick anschlossen. Neben einigen der schon genannten Ideen – vor allem genialen Anwendungen der paradoxen Intervention und der »Symptomverschreibung« – hatte sich diese Gruppe mit moderner Kommunikationstheorie befasst und dabei auch mathematische Modelle berücksichtigt. Bateson bezog sich schon früh auf die »Principia mathematica« von A.N. Whitehead und B. Russell. Das1910 bis1913 entstandene mathematische Grundlagenwerk übersetzte er, insbesondere was die so genannte logische Typenlehre betrifft, in Kommunikationstheorie.[48] Er untersuchte »komplementäre Beziehungen« – wie Eltern-Kinder-Beziehungen –, bei denen die Grenzen der Subsysteme zu beachten sind, um das zu vermeiden, was man später »Parentifizierung« genannt hat, also die Überforderung von Kindern, indem man sie in die Elternrolle drängt. Auf der anderen Seite beschrieb er »symmetrische Beziehungen« – z.B. konkurrierende Beziehungen der Kinder untereinander –, in denen symmetrische Eskalationen vorkommen, die sich tendenziell unbegrenzt steigern können, wenn man nicht in so genannten Lösungen zweiter Ordnung die logische Ebene wechselt. Ein Beispiel dafür war die