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Kalifornien im Dezember 1994
Felder von Gold. Verbrannter Weizen unter heißer Sonne.
Eyran fühlte den warmen Luftzug auf der Haut, während er zwischen den Halmen hindurchrannte, berauscht von der eigenen Geschwindigkeit, diffus die vorbeifliegenden und vor ihm zurückschnellendenÄhren wahrnahm, die gegen seine Beine und Schenkel peitschten. Es war England. Er wußte es instinktiv, obwohl es keine eindeutigen Landmarken in seinem Traum gab, die ihm Gewißheit verschafft hätten. Das Feld, in dem er früher in England gespielt hatte, lag auf einem Hügel, zog sich hinab zu einem kleinen Wäldchen, das sich in eine Senke schmiegte. Genau dort befanden sich einige seiner Lieblingsverstecke. Ein weiteres Weizenfeld erhob sich sanft dahinter und ging schließlich in Kohl-, Mais- und Haferfelderüber. Ein farbenfrohes Flickwerk aus Grün und Gold, das sich träge bis zum Horizont hinstreckte.
Das Feld in seinem Traum jedoch lag auf flachem Gelände, und Eyran rannte hindurch und sah sich verzweifelt nach all jenen vertrauten Landmarken um: dem hohlen Baum im Hain, wo er ein Baumhaus gebaut hatte, dem kleinen Bach, der aus Richtung der Broadhurst Farm in das Wäldchen floß– wo Sarah manchmal mit ihrem Labrador spazierenging. Das Feld, das sich jetzt vor ihm ausbreitete, verlief hartnäckig auf ebenem Niveau, egal wie schnell er auch rannte und wie viele Halmreihen er durchpflügte. Die Linie des blauen Horizontsüber dem Gold blieb gerade. Dabei verließ ihn nie das Gefühl, daß sich die Umgebungändern würde, wenn er nur weiterlief, daß er irgendwann die vertraute Senke mit dem Wäldchen sehen mußte. Und er wurde schneller, eine unermüdliche Energie trieb ihn weiter. Dann wechselten mit einem Mal die Konturen. Direkt vor sich sah er etwas, das die Kammlinie eines Hügels zu sein schien. Und auch die Stellung der Sonne hatte sich verändert. Ihr Licht stach ihm in die Augen und kam näher, immer näher… blendete den Hügel vor ihm aus, dann den Horizont. Sie versengte den goldenen Weizen zu einem gleißenden Weiß und brannte in seinen Augen wie ein Blendspiegel.
Eyran wachte mit einem Schlag auf, als das Licht in seinen Augen schmerzte. Er sah aus dem Autofenster direkt in Scheinwerfer, die von einer Seite auf ihn gerichtet waren, jedoch abschwenkten, als der Wagen nach links abbog. Er erkannte keinerlei vertraute Anhaltspunkte in der Landschaft, obwohl er wußte, daß sie eine gute Strecke zurückgelegt haben mußten, seit sie ihre Freunde in Ventura verlassen hatten. Er hörte seinen Vater etwasüber die Kreuzung murmeln, an der sie zum Highway Nummer 5 nach Oceanside und San Diego kommen sollten, dann knisterte Papier, als seine Mutter auf dem Beifahrersitz vergeblich versuchte, die Karte an der richtigen Stelle auseinanderzufalten. Die Fahrt des Wagens verlangsamte sich, während der Vater in Abständen immer wieder auf die Karte blickte.
»Ist das die Auffahrt, wo es nach Anaheim und Santa Ana geht, kannst du das erkennen?« fragte Jeremy.»Vielleicht sollte ich anhalten.«
»Ja, vielleicht. Ich bin eben nicht so gut im Kartenlesen.« Allison wandte sich halb dem Rücksitz zu.»Ich glaube, Eyran ist sowieso wach. Er hat morgen Schule. Wäre gut, wenn er noch etwas schläft.« Allison drehte sich um und strich sanftüber Eyrans Schläfe.
Unter der beruhigenden Berührung schloß Eyran die Augen. Doch als die Mutter ihre Hand zurückzog und er merkte, daß sie wieder geradeaus sah, schlug er instinktiv die Augen auf und starrte auf ihren Hinterkopf, fixierte ihr goldblondes Haar, bis alles vor ihm verschwamm. Er wünschte sich die Wärme des Weizenfelds und des Traums zurück.
Allison bemerkte, wie Jeremy krampfhaft das Steuerrad umfaßte, als erüber ein berufliches Problem sprach. Er blinzelte, als sich seine Augen an das schwindende Licht der Abenddämmerung anpaßten. Wegweiser nach Carlsbad und Escondido tauchten auf.
Allison sah verstohlen noch einmal zu Eyran hin. Er war wieder eingeschlafen, doch sie entdeckte Schweißperlen auf seiner Stirn, und der Kragen seines Hemds war feucht. Sie zog seine Decke ein Stück hinunter. Es war Anfang Dezember, und das Wetter war noch mild mit Temperaturen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Grad. Zwei Wochen bis zu den Schulferien und der Reise nach England, wo sie nur wenige Tage nach ihrer Ankunft Stuart und Amanda sehen würden. Ein Teil ihres Bewußtseins plante bereits: wie oft Helena während ihrer dreiwöchigen Abwesenheit nach dem Haus sehen sollte, welche frischen Lebensmittel sie ihr im Kühlschrank ließ, Kleidung, Packen, welche dicken Mäntel mitgenommen werden sollten.
»Wir dürften in einer Stunde zu Hause sein«, sagte Jeremy.»Soll ich von meinem Handy aus Helena anrufen?«
»Wie du wil