6 Damen und Herren in mittelalterlichen Trachten winken mit dicken Sträußen aus Azaleen und Begonien den grünweiß uniformierten Männern auf den grün-weißen Motorrädern an der Spitze des Trauerzuges entgegen.Die Vertreter der Partnerstadt Gent, der Stadt der Tuchmacher und Drahtzieher, sagt der Reporter. Am Anfang der Bahnhofstraße sind Abordnungen der europäischen Partnerstädte platziert,mit ihrem lockeren und heiteren Auftreten geben sie einen harmonischen Auftakt für festliche Stimmung:
Nach Burschen und Frauen im Bergbauernkostüm aus Montreux ziehen Basken aus San Sebastian über den Bildschirm, ohne Tracht, aber mit ihren berühmten Mützen. Sie bewegen sich untergehakt im Takt der Marschmusik, zum Tanzen bereit.
Die farbigen Bilder wirken entspannend auf Bernhard Schäfer im Chefbüro. Der Wechsel zwischen den Gesten der Trauer und der Freude, zwischen dem Arrangement des Protokolls und den spontanen Gefühlsregungen der Zuschauer gefällt ihm. Es stört ihn nur die Gruppe aus Klagenfurt, die von der heimischen Holzmesse das neueste Sortiment Schlagstöcke mitgebracht hat und zum Takt des Marsches die Stöcke über die Köpfe wirbeln lässt wie eine Damenriege die Keulen.
Schäfer hat frischen Kaffee vor sich, streckt die Beine aus, sieht Sigurd Nagels Sarg im Fernsehen und gleichzeitig sein Fotogesicht auf der Vorzimmertür. Das erste Fahndungsplakat als Erinnerung an die wilden Zeiten des Aufbruchs. Dazu das Plakat mit den jeweils neu gesuchten Gesichtern, in rechteckiger Ordnung und gleichmäßigem Abstand Belohnung versprechend: Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle. Ein Hinweis an sich selbst und an die Besucher, die Gefahr hört nie auf, hinter dieser Tür beginnt der Terror.
Die Särge interessieren ihn weniger als die Köpfe, die er vom Schreibtisch aus stets im Visier hat: die Meistgesuchten und die früher Meistgesuchten, tot, angeklagt, verurteilt oder versteckt unter den aktuellen Fahndungsfotos, wer warnt wen vor Schusswaffengebrauch. Schäfer braucht den Blickkontakt, damit er sie besser greifen kann. Er braucht die Gesichter, obwohl er sie kennt bis in die Falten und unveränderlichen Kennzeichen hinein, obwohl sie ihn im Traum begleiten und auf jeder Dienstreise und allgegenwärtig sind in der Öffentlichkeit der Ämter und Poststellen, der Flughäfen und Litfaßsäulen, der Tankstellen und Bahnsteige.
Die Toten werden an der Delegation aus Berlin-Kreuzberg vorbeigefahren, die nicht mehr zu bieten hat als die Fahne Berlins, unter der das Häuflein schwarz und grau gekleideter Lokalpolitiker versammelt ist, verschüchtert von der Fröhlichkeit der Spanier und Österreicher. Im schwachen Wind wedelt der Bär mit schwarzen Tatzen und streckt die Zunge, unter ihm tragen Schäfers Kollegen Pistolen und Kabel auf Kissen vorbei.
Bernhard Schäfer ist bemüht, keine Emotion zu zeigen, obwohl er allein im Büro sitzt. Niemals hat er eins der Gesichter mit dickem Stift durchgestrichen, wenn einer aus der Garde der Mutmaßlichen gefangen oder tot war. Er hakt keinen ab, streicht keinen durch, stößt keinen, nicht einmal die Toten, aus dem trauten Kreis derer, die sich Family nennen. Er hat die Plakate persönlich mit Tesafilm an die Tür geklebt. Er lässt die Gesichter weiter sprechen, hört ihnen zu, er braucht sie, braucht Nagel, den er am längsten kennt und mit dem er jeden Tag Zwiesprache sucht, jetzt zischt er ihm zu:
«Ganz schön weit gebracht hast dus!»
Bernhard Schäfer trinkt den ersten Schluck Kaffee immer zu früh, verbrennt sich die Zunge und macht, da er guter Laune ist, seinen Gegner dafür verantwortlich.
Nagel, dessen Gesicht nicht so hässlich und abstoßend ist, wie das Foto dem Publikum weismacht, lebt auf, wenn er angesprochen wird. Schäfer kennt die Parole «Der Kampf geht weiter», also stört er sich nicht daran, dass Nagel hört, was er sagt und sagen will, seine Terminpläne kennt, seine Telefonate, seine Anweisungen, seine Berater und Kollegen Abteilungsleiter. Nagel s