Der Verlust politischer Gleichheit Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet
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Armin Schäfer
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Der Verlust politischer Gleichheit Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet
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Campus Verlag
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9783593428956
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Schriften aus dem MPI für Gesellschaftsforschung
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1
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CHF 38.10
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Politisches System
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German
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332
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Wasserzeichen/DRM
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PC/MAC/eReader/Tablet
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PDF
Bundestagswahle , Landtagswahlen, Kommunalwahlen, Europawahlen - seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung in Deutschland. Doch was steht hinter diesem Trend und was bedeutet er für die Demokratie? Armin Schäfer beantwortet diese Frage umfassend und zeigt, dass wachsende soziale Ungleichheit zu einer Verringerung der Wahlbeteiligung führt: Sozial benachteiligte Gruppen bleiben in großer Zahl der Wahlurne fern. Die Unterschiede in der Wahlbeteiligung waren in der Geschichte der Bundesrepublik nie so groß wie heute. Aktuelle Reformmaßnahmen, die die Partizipationsmöglichkeiten ausweiten, verringern entgegen optimistischen Erwartungen die Beteiligungskluft nicht, sondern vergrößern sie sogar.
Armin Schäfer war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, und ist heute Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück.
Kapitel 1
Einleitung
Der Grundgedanke der Demokratie ist einfach. In einem politischen Gemeinwesen müssen Entscheidungen getroffen werden, die potenziell alle betreff en, gleichzeitig jedoch umstritten sind. Da es keinen objektiven Maßstab gibt, der eindeutige Handlungsempfehlungen vorgibt, muss ein Verfahren gefunden werden, das widerstreitende Meinungen berücksichtigt, ohne zu vollständiger Blockade zu führen. Strittige Entscheidungen werden legitimiert, indem auch die Unterlegenen das Verfahren als fair anerkennen, das heißt, wenn ihre Meinung beachtet wurde und sie erwarten können, nicht dauerhaft zu den Verlierern zu gehören. Legitime politische Entscheidungen gehen demnach aus Verfahren hervor, die frei von Willkür sind und niemanden privilegieren. Um dies zu erreichen, müssen Bürgerinnen und Bürger als Gleiche behandelt werden, wie unterschiedlich sie tatsächlich auch sein mögen. Am klarsten kommt dies im Prinzip zum Ausdruck, dass jeder erwachsene Staatsbürger bei Wahlen die gleiche Stimmenzahl erhält.1 In seiner Studie zu Demokratietheorien von der Antike bis zur Gegenwart hält Schmidt (2010: 17; Hervorh. nicht im Orig.) deshalb gleich zu Beginn fest, dass Demokratien 'der Anspruch gemeinsam [ist], die Herrschaft im Staate auf die Norm politischer Gleichheit der Vollbürger zu verpflichten, auf den Willen der Gesamtheit oder zumindest eines maßgebenden Teils der Stimmbürgerschaft zu gründen und die zeitlich befristet Regierenden auf Rechenschaft gegenüber den Regierten festzulegen'. Gutman (2003: 169) sieht in 'gleicher politischer Freiheit' das definierende Merkmal der Demokratie.
Vielen Gegnern diente gerade das Gleichheitsversprechen der Demokratie als Ausweis ihrer Unzulänglichkeit, erschien es ihnen doch als offensichtlich, dass Frauen und Fremde, Besitzlose und Ungebildete nicht fähig seien, politisch vernünftig zu urteilen. Politische Gleichheit musste aus ihrer Sicht zur Herrschaft der Unvernunft führen, wenn Arbeiter oder ungebildete Massen das Wahlrecht erhalten. Selbst ein progressiver Liberaler wie John Stuart Mill ([1861]1958: 135, 138) schlägt in Considerations on Representative Government vor, ein nach Berufsgruppen gestaffeltes Pluralstimmrecht einzuführen, um einen übergroßen Einfluss von einfachen Arbeitern zu verhindern. Im Argument, nur wenige verfügten über die Kompetenz, Politik verstehen und weise regieren zu können, erkennen Walzer (1983: 285) und Dahl (1989: 59) übereinstimmend den Prototypen undemokratischen Denkens. Doch während daraus bis in das 20. Jahrhundert abgeleitet wurde, vermeintlich inkompetenten Gruppen das Wahlrecht vorzuenthalten, gibt es heute, zumindest in den westlichen Demokratien, kaum noch Stimmen, die die formale politische Gleichstellung der erwachsenen Staatsbürgerinnen und -bürger ablehnen. Im historischen Vergleich erscheint die Demokratie inklusiver als jemals zuvor, weshalb von einem Siegeszug demokratischer Gleichheit gesprochen werden kann.
Vor dem Hintergrund dieser Erfolgsgeschichte muss der Verweis auf eine Krise der Demokratie unbegründet wirken - und doch finden sich immer wieder Stimmen, die genau dies diagnostizieren. In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts erschien der Fortbestand der Demokratie konservativen wie linken Kritikern unsicher (siehe Schäfer 2008; Streeck 2013: 23-27). Die damals rasch anwachsende Literatur zur 'Unregierbarkeit' ist gespickt mit dramatischen Formulierungen und Untergangsszenarien. So äußert Brittan (1975: 129) die Vermutung, die Demokratie werde noch zu Lebzeiten der damals Erwachsenen dahinscheiden. Crozier und seine Koautoren (1975: 2) zitieren Willy Brandt, der ebenso den Untergang der Demokratie für die folgenden zwanzig bis dreißig Jahre vorausgesagt haben soll. Schließlich sieht Hennis (1977: 20) zwar nicht den Staat, wohl aber die 'spezifisch abendländische Weise des Regierens' vom Absterben bedroht an. Vor allem starke Gewerkschaften, hohe Inflationsraten und wachsende Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger an den Staat führten zu dieser pessimistischen Zukunftssicht. Von links stand dieser Perspektive die nicht minder pessimistische These von der 'Legitimitätskrise' gegenüber, die den Staat aus gänzlich anderen Gründen als überfordert ansah. Nicht übertriebene Politisierung verursache eine Krise der Demokratie, sondern politische Dauerinterventionen, die den Kapitalismus stabilisieren und den Antagonismus von Kapital und Arbeit abfedern müssten (Offe [1972]2006: 29). Im 'Spätkapitalismus ' seien die Auffangmechanismen 'kategorial erschöpft', mit denen ökonomische und politische Krisentendenzen eingedämmt werden könnten (Offe [1972]2006: 65), wodurch das Krisenmanagement selbst in eine Krise gerate (Offe 1984: 36).
Die nächste Welle von Krisendiagnosen setzte nur wenige Jahre, nachdem Fukuyama (1992: 45) den Triumph der 'liberalen Demokratie' gegenüber allen rivalisierenden Gesellschaftsmodellen verkündet hatte, ein. So sah Giddens (2000: 11) die Demokratie im Augenblick ihres Triumphs von einer paradoxen Schwäche befallen, weil gerade in ihren Kernländern Unzufriedenheit und politische Apathie zunehme. Einige Jahre später erzeugte die Warnung vor der 'Postdemokratie' ein lautes öffentliches Echo und der Begriff wurde zum geflügelten Wort für alle, die in den Krisenchor einstimmten. Mit seiner Wortwahl will Crouch (2004) darauf hinweisen, dass die demokratischen Verfahren zwar formal intakt, aber bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt seien, weil wichtige Entscheidungen nicht öffentlich und durch die demokratisch gewählten Repräsentanten, sondern durch mächtige Lobbygruppen - vor allem Wirtschaftsunternehmen - getroffen würden. Wahlkampagnen und politischer Wettstreit werden aus seiner Sicht zu Inszenierungen, die das Publikum unterhalten sollen, aber in denen keine glaubhaften Alternativen mehr zur Abstimmung stehen. Der Ausdruck 'Postdemokratie' beschreibt für Crouch eine korrumpierte Form der Demokratie:
The idea of post-democracy helps us describe situations when boredom, frustration and disillusion have settled in after the democratic moment; when powerful minority interests have become far more active than the mass of ordinary people in making the political system work for them; where political elites have learned to manage and manipulate popular demands; where people have to be persuaded to vote by top-down publicity campaigns. (Crouch 2004: 19-20)
Durch die weltweite Wirtschaftskrise, die sich seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers entfaltet hat, verschärft sich die Krisenwahrnehmung. In Gekaufte Zeit registriert Streeck (2013), wie sich der Bedeutungsgehalt der Demokratie verändert, weil sich politische Entscheidungen nicht zuerst am Willen der Mehrheit, sondern vorrangig an den Ansprüchen der Gläubiger und an der Bewertung des Regierungshandelns durch die Finanzmärkte orientieren müssten. In den am stärksten von der Krise betroffenen Ländern sicherten Parteien schon vor der Wahl zu, dass sie Schuldenabbau und Reformen, wie die Liberalisierung der Arbeitsmärkte oder die Privatisierung von staatlichen Leistungen, fortsetzen werden. Während für Fukuyama Kapitalismus und Demokratie eine höchst erfolgreiche Einheit bilden, stellt Streeck (2013: 235) ihre weitere Vereinbarkeit infrage.
Auch wenn jede einzelne dieser Krisendiagnosen umstritten ist, spiegeln sie doch ein verbreitetes Unbehagen an der Art und Weise wider, wie die Demokratie funktioniert - ein Unbehagen, das sich auch in Umfragen zeigt. Das Ansehen von Parteien, Parlamenten und Politikern ist gering und in Deutschland stimmt die Mehrheit der Bevölkerung regelmäßig der Aussage zu, dass Politiker sich nicht um die Meinung der einfachen Leute kümmern, sondern stattdessen vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Nicht das Prinzip der Demokratie, sondern ihre Umsetzung wird in vielen entwickelten Demokratien skeptisch beurteilt, denn es besteht eine Diskrepanz zwischen Erwartungen, die sich an die Demokratie richten, und ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit (Norris 2011: 127, Tabelle 7.1).<
Inhalt
6
Vorwort
10
Kapitel 1 Einleitung
12
Kapitel 2 Wie viel Gleichheit benötigt die Demokratie?
28
2.1 Freiheit und Gleichheit aus liberaler und republikanischer Sicht
31
2.1.1 Liberalismus und der Vorrang negativer Freiheit
32
2.1.2 Neorömischer und neoathenischer Republikanismus
34
2.2 Formale Gleichheit und Repräsentation
38
2.3 Soziale Ungleichheit und der Wert der Freiheit
42
2.4 Wird Politik durch Märkte korrumpiert?
46
2.5 Politische Tugenden
47
2.6 Fazit
51
Kapitel 3 Ungleichheit im Zeitalter wirtschaftlicher Liberalisierung
52
3.1 Die Freisetzung der Märkte: Liberalisierungstrends in den OECD-Staaten
53
3.1.1 Liberalisierungstrends seit 1980
53
3.1.2 Liberalisierung und Ungleichheit
67
3.2 Fazit
73
Kapitel 4 Führt soziale zu politischer Ungleichheit?
74
4.1 Empirisches Vorgehen
76
4.1.1 Die Analyse von Aggregatdaten
77
4.1.2 Mobilisierung, Spaltung oder Resignation: Die Auswirkung von Ungleichheit auf die Beteiligung sozialer Gruppen
81
4.2 Fazit: Die Rückkoppelung zwischen Beteiligung und Ungleichheit
88
Kapitel 5 Nichtwählerinnen und Nichtwähler in Deutschland
92
5.1 Der Rückgang der Wahlbeteiligung in Deutschland
93
5.2 Wer wählt nicht?
96
5.2.1 Die soziale Schieflage der Nichtwahl
97
5.2.2 Wer von den Jungen bleibt der Wahlurne fern?
100
5.2.3 Nichtwähler neuen Typs
104
5.2.4 Die soziale Logik der Nichtwahl
108
5.2.5 Wahlkampf und Wählermobilisierung
114
5.3 Unterscheiden sich Wähler und Nichtwähler in ihren politischen Präferenzen?
117
5.4 Fazit
122
Kapitel 6 Klassenlage und Wahlverhalten: Von der Parteien- zur Nichtwahl
124
6.1 Stetige Abnahme oder trendlose Fluktuation: Der Effekt der Klassenlage auf das Wahlverhalten
125
6.2 Veränderung der Klassenwahl auf der Bundesebene, 1980 bis 2010
128
6.3 Das Wahlverhalten bei Landtagswahlen, 1978 bis 2011
139
6.4 Fazit
144
Kapitel 7 Soziale Segregation, Wahlbeteiligung und Parteiergebnisse
148
7.1 Beeinflusst die Höhe der Wahlbeteiligung das Wahlergebnis?
148
7.2 Daten und Methode
152
7.3 Unterschiede in der Wahlbeteiligung zwischen Stadtteilen
154
7.4 Die Auswirkung ungleicher Wahlbeteiligung auf die Parteien
159
7.5 Ungleiche Beteiligung: Herausforderung für die Parteien
163
7.6 Fazit
166
Kapitel 8 Vom Ehrenamt zu den Mandatsträgern: Die Dominanz der Höhergebildeten
168
8.1 Ehrenamtliches Engagement
169
8.2 Politische Mitgliedschaft und alternative Partizipationsformen
173
8.3 Parteimitglieder, Kandidaten und Abgeordnete
177
8.4 Fazit
186
Kapitel 9 Mehr Demokratie wagen?
188
9.1 Demokratisierung der Demokratie
190
9.2 Wahlrechtsreformen: Kumulieren und Panaschieren in Hamburg und Bremen
193
9.3 Ist mehr direkte Demokratie die bessere Demokratie?
197
9.3.1 Die Hamburger Schulreform
198
9.3.2 Nichtraucherschutz in Bayern
202
9.3.3 Lehren aus der Schweizer Direktdemokratie
204
9.4 Fazit
206
Kapitel 10 Ist eine Wahlpflicht gerechtfertigt?
208
10.1 Die Wirkung der Wahlpflicht auf Höhe und Streuung der Wahlbeteiligung
208
10.2 Weitere Effekte der Wahlpflicht?
218
10.3 Argumente für und gegen die Wahlpflicht
221
10.4 Fazit
228
Kapitel 11 Reformoptionen und das republikanische Dilemma
230
Abbildungen
246
Anhang: Tabellen zu den Kapiteln 3 bis 10
250
Literatur
310