Rätsel um eine mächtige Verbindung
Nichts ist, wie es war: Der Arabische Frühling brachte inÄgypten wahrlich Steine ins Rollen. Viele Experten sehen in ihm eine historische Zäsur, allerdings mit offenem Ausgang. Nachdem im Zuge der Massenproteste des Arabischen Frühlings im Februar 2011 derägyptische Präsident Husni Mubarak gestürzt worden war, sollte schon bald der politische Aufstieg einer bislang illegalen Gruppe beginnen: der Muslimbruderschaft. In den ersten freien ParlamentswahlenÄgyptens, Ende 2011/ Anfang 2012, wurde sie zunächst die mit Abstand stärkste Kraft im Parlament, und ein knappes halbes Jahr später gewann der Kandidat der Gruppe, Muhammad Mursi, sogar die Präsidentschaftswahlen. Erstmals in der Geschichte derägyptischen Republik kam damit ein Staatsoberhaupt nicht aus den Reihen des säkular orientierten Militärs, sondern aus der islamistischen Muslimbruderschaft, die nun – nach jahrzehntelanger Illegalität – an der Spitze der Macht angelangt war.
Für viele Menschen in Deutschland und Europa kam der Höhenflug dieser Gruppe aus dem Nichts. Ausägyptischer Perspektive war dem natürlich nicht ganz so. Die Muslimbrüder waren zwar seit den 1950er Jahren formal verboten und seither immer wieder staatlicher Repression ausgesetzt, aber schon seit den 1980er Jahren hatte das Mubarak-Regime die Gruppe begrenzt im Parlament sowie in diversen Interessengruppen toleriert. Unter Mubarak gelang es der Organisation schließlich, zur größten organisierten Opposition des Landes zu avancieren. Bei der Parlamentswahl im Jahr 2005 erzielte die Gruppe bereits 20 Prozent der Sitze und wurde damit unangefochten die stärkste Opposition im Parlament. Noch nie zuvor hatte eine oppositionelle Kraft auch nur annähernd ein solches Ergebnis in derägyptischen Republik erzielt.
VieleÄgypter sagten damals der Gruppe eine monopolartige Stellung innerhalb der Opposition nach. Die gesamte politische Landschaft sei zugespitzt auf das Mubarak-Regime auf der einen und die Muslimbrüder auf der anderen Seite. In gewisser Weise ist das nach dem Sturz Mubaraks und bis heute auch so geblieben: Bei den Präsidentschaftswahlen von 2012 waren es ebenfalls ein Vertreter des alten Regimes – Ahmad Shafiq, letzter Premierminister unter Mubarak und ehemaliger Luftwaffengeneral – sowie mit Muhammad Mursi ein prominenter Muslimbruder, die in der Stichwahl gegeneinander antraten. Und ganz besonders heute, nach der Absetzung Mursis durch das Militär im Juli 2013, ist die politische Landschaft schon wieder polarisiert: in ein Pro-Muslimbrüdercamp, welches seit dem Sturz Mursis erneut politisch verfolgt wird, und ein Pro-Militärcamp, hinter dem sich auch zunehmend andere Kräfte des»alten Systems« versammeln, die seither ihre Macht erneut konsolidieren konnten. Der Konflikt dieser beiden Lager nimmt immer gewaltsamere Formen an. Politische Kräfte, die sich weder dem einen noch dem anderen Lager nahe fühlen, haben es zunehmend schwer, sich in einer solch polarisierten Atmosphäre zu positionieren.
Die Muslimbruderschaft, die im Zentrum der bewegtenägyptischen Politik der letzten Jahre stand, ist jedoch besonders für uns im Westen schwer einzuschätzen. Als islamistische Kraft wird die Gruppe oft per se mit Terrorismus in Verbindung gebracht, denn in den Medien dominieren beim Thema Islamismus Bilder von Anschlägen, vor allem des internationalen Terrornetzwerks al-Qaida. Prinzipiell bedeutet die Zuschreibung»islamistisch« zunächst jedoch nur, dass eine Gruppe den Islam als Ideologie auffasst und ihn damit als allumfassendes System versteht, welches jeden Bereich des Lebens, also auch Staat und Politik, durchziehen soll. Welche Mittel zur Verfolgung dieses Ziels angewendet werden, unterscheidet die einzelnen islamistischen Gruppen teils massiv, ebenso wie ihr Islamverständnis beziehungsweise die konkreten Auffassungen davon, wie eine muslimische Gesellschaft oder ein islamischer Staat auszusehen habe.
Derzeit dominieren im Islamismus zwei große Richtungen: die transnationale salafistische Bewegung und die Muslimbruderschaft, die insofern ebenfalls transnational ist, als sich nach der Gründung der Mutterorganisation inÄgypten 1928 auch Ableger in anderen Staaten gründeten, darunter die al-Nahda-Partei in Tunesien oder die Hamas im Gazastreifen. Beide Bewegungen unterscheiden sich in erster Linie durch ihr Islamverständnis. Während die Salafisten nur eine einzige Richtung im Islam für rechtgeleitet halten, nämlich sich selbst, und alle anderen Ausprägungen rigoros ablehnen, so zeichnet die Muslimbruderschaft ein toleranteres und inklusiveres Verständnis vom Islam aus. Sie akzeptiert die unterschiedlichen Richtungen im Islam und betont eher die Gemeinsamkeiten, als sich an den Unterschieden aufzuhalten. Den Salafisten gilt die Scharia dagegen als minutiöses Gesetzbuch, welches wörtlich und rigide angewendet werden muss und deshalb das Alltagsleben bis ins kleinste Detail ultrakonservativ regelt. Die Muslimbrüder hingegen sehen die Scharia als – in großen Teilen – aus ethischen Leitprinzipien bestehend, die je nach Ort und Zeit ganz unterschiedlich vom Menschen umzusetzen sind. Sie sind der Meinung, Gott räume dem Menschen durchaus einen Spielraum ein, viele seiner Alltagsangelegenheiten selbst zu regeln. Denn