In der Mitte ihres Lebens
In der Mitte ihres Lebens starb meine Mutter.1 Einunddreißig Jahre war meine Mutter alt, als sie starb. Kurz und unglücklich verlief ihr Leben.2 Tagsüber blieb sie im Haus; sie verließ das Haus nie. Ihre Freundinnen und Nachbarinnen kamen nicht zu Besuch, und auch mein Vater lud sich keine Gäste ein. Still litt unser Haus vor sich hin, keinem Fremdenöffnete sich die Tür. Meine Mutter lag im Bett und sprach nicht viel. Aber wenn sie sprach, war es, als würde ich auf ganz reinen Flügeln, die sich für michöffneten, in einen Palast des Segens getragen.3 Wie sehr liebte ich ihre Stimme.4 Oftöffnete ich die Tür, damit sie fragte, wer da sei. Ich war noch klein.5 Manchmal kam sie aus dem Bett und setzte sich ans Fenster. Weiß gekleidet saß sie dann am Fenster. Immer war sie weiß gekleidet.6 Einmal war ein Freund meines Vaters zufällig in unserer Stadt, sah meine Mutter und hielt sie für eine Krankenschwester, weil ihn ihre Kleidung in die Irre geführt hatte. Er wusste nicht, dass sie die Kranke war. Ihre Krankheit, eine Herzkrankheit, zerstörte ihr Leben.7 Jeden Sommer schickten sie dieÄrzte zu den Heilquellen, aber sie kam zurück, kaum dass sie fort war, weil sie vor lauter Sehnsucht keine Ruhe fand, wie sie sagte. Dann saß sie wieder am Fenster oder lag im Bett.
Mein Vater begann, seine Geschäfte einzuschränken. Er fuhr auch nicht mehr nach Deutschland,8 wohin er jährlich gereist war, um mit seinen Partnern zu verhandeln. Er vertrieb Hülsenfrüchte. Doch diesmal fuhr mein Vater nicht. Das war die Zeit, als er vergaß, wie es in der Welt zuging. Sobald er abends nach Hause kam, setzte er sich zu meiner Mutter. Seine linke Hand hatte er hinter seinem Kopf, seine Rechte lag in ihrer Rechten.9 Gelegentlich beugte sie sich hinunter zu seiner Hand und küsste sie.
Im Winter des Jahres, als meine Mutter starb, wuchs die Stille in unserem Haus um das Siebenfache.10 Meine Mutter verließ das Bett nur noch, wenn es von Kele11 bezogen wurde. In den Hausflur legte man einen Teppich, damit jeder Tritt absorbiert wurde. Unsere Zimmer waren alle durchdrungen von Arzneimittelgeruch, und in jedem Raum war Schwermut spürbar. DieÄrzte waren ständig in unserem Haus. Sie kamen auch ungerufen. Fragte einer, wie es um ihre Gesundheit stehe, antworteten sie, die Heilung liegt in Gotteshand. Das heißt, man kann die Hoffnung aufgeben, gegen ihre Krankheit ist kein Kraut gewachsen. Aber meine Mutter seufzte nicht, klagte nicht und vergoss keine Träne. Still lag sie auf ihrem Bett, und ihre Kraft schwand wie ein Schatten.12
Gewiss gab es erfreuliche Tage voller Hoffnung, dass sie weiterleben würde. Der Winter ging vorüber, und der Frühling hielt Einzug im Land.13 Es war, als ob meine Mutter ihren Schmerz vergessen hätte. Wir konnten mitansehen, wie ihr Leiden nachließ. Auch dieÄrzte spendeten uns Trost. Es gibt Hoffnung, sagten sie, die Frühlingszeit beginnt, und das Sonnenlicht wird Leben in ihre Gebeine bringen.14
Pessach stand vor der Tür.15 Kele kümmerte sich um alle notwendigen Vorbereitungen für das Fest. Auch meine Mutter gab acht darauf, dass es an nichts fehlte. Sie hatte als Frau des Hauses ein Auge auf alles, was darin vorging.16 Außerdem hatte sie sich ein neues Kleid gemacht.
Einige Tage vor dem Fest stand sie auf. Sie stellte sich vor den Spiegel und trug ihr neues Kleid. Ihr Körper blitzte schemenhaft im Spiegel auf,17 und auf ihrem Antlitz strahlte hell ihr Lebenslicht.18 Mein Herz tat vor Freude einen Sprung. Wie schön war ihr Gesicht mit diesem Kleid! Es war nicht zu erkennen, welches Kleid das neue und welches das alte war, beide waren ja weiß, und das abgelegte war ebenfalls wie neu, da meine Mutter den ganzen Winterüber gelegen und kein Kleid getragen hatte. Ich weiß auch nicht, welche Zeichen mir Hoffnung gaben. Vielleicht ließ die Frühlingsblüte,19 die sieüber ihrem Herzen angebracht hatte, einen Hauch von Hoffnung erahnen. Zugleich hatte sich der Arzneimittelgeruch verflüchtigt, und ein frischer, angenehmer Duft drang durch unser ganzes Haus. Unter all den Duftstoffen, die mir bekannt waren, gab es keinen wie diesen. Aber ich traf ihn noch einmal, diesen Duft, im Traum, in einem Nachtgesicht.20 Woher kam dieser Duft? Meine Mutter pflegte ihren Körper nicht mit weiblichen Kosmetika.21
Meine Mutter erhob sich von ihrem Bett und set