: Jonathan Lethem
: Talking Heads - Fear Of Music Ein Album anstelle meines Kopfes
: Tropen
: 9783608107197
: 1
: CHF 12.50
:
: Musik, Film, Theater
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Für Jonathan Lethem ist Fear of Music (das dritte Album der Talking Heads und das erste, das von Brian Eno produziert wurde) ein Meisterwerk - ausgefallen, paranoid, funky, süchtigmachend, rhythmisch, eingängig, schauderhaft und spaßig. Wie ein Besessener analysiert er die Songs, den Gitarrensound, den Rhythmus, die Texte, die äußere Aufmachung, die Ursprünge der Band aus Downtown New York und ihr musikalisches Erbe. Dabei bezieht er sich auf Theorien, Erzählliteratur und Erinnerungen und platziert das Album neben Größen wie Fritz Lang, Edgar Allan Poe, Patti Smith und David Foster Wallace. Er entführt uns in das New York der 1970er Jahre - und immer mit dem Blick darauf, wie sich unser Sinn für Kunst verändert. »Talking Heads - Fear of Music« ist das virtuose Stück eines Schriftstellers, der uns eine seiner größten Leidenschaften nahebringt.

Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, ist Autor zahlreicher Romane, darunter die Brooklyn-Romane »Motherless Brooklyn« und »Die Festung der Einsamkeit«. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den »National Book Critics Award«, den »Gold Dagger« und das »MacArthur Fellowship«. Lethem hat am Pomona College in Südkalifornien die Professur für Creative Writing inne. Zurzeit lebt er mit seiner Familie in Kalifornien. Weitere Informationen zu Jonathan Lethem finden Sie auf seiner Website www.jonathanlethem.com

I ZIMBRA


Der sich windende Ausnahmezustand, den»I Zimbra« darstellt, hat bereits Höchstgeschwindigkeit erreicht, bevor man sich darauf einstellen kann. Es ist eineÜbertragung aus Morsezeichen und stroboskopisch-geschrammelter Gitarre, die uns gleich in die Zukunft der Platte (dystopisch) und der Band (utopisch) katapultiert. In dieser Dopplung aber bleibt der Song im Wesentlichen teilnahmslos, diskret und unpersönlich – atopisch.»I Zimbra« greiftFear of Music weit voraus, obwohl er die Tür zur Platteöffnet, ihre Ouvertüre darstellt. Indem er unseren Körpern einen verführerischen Ausnahmezustand einschreibt, es gleichzeitig aber ablehnt, unseren Köpfen einen fassbaren Gegenstand zu nennen, impft uns der Song mit einer»Totvakzine«-Version vonFear of Music, die gleichzeitig Kraft gibt und krank macht. Es ist kein Verlass auf»I Zimbra«. Das Lied erzwingt die Aufmerksamkeit des Hörers, ohne sich damit aufzuhalten, ihn auch zuüberzeugen. Die einst menschliche Band hat sich selbst mit einer Maschine verwechselt, die außerhalb von Raum, Zeit und Geist eine Operation durchzuführen hat. Oder ist sie mutiert und hat uns zurückgelassen? Niemand sagt es uns.»I Zimbra« macht sich uns zu Willen, wie sexuelles Verlangen oder die Angst selbst, die an einem Ort jenseits der Sprache stattfinden.

Und doch, uns verhöhnend, ist da Sprache, wenn auch eine sehr spezielle.

Gadget berry bomber clamored

Lazuli loony caloric cad jam

Ah! Bum berry glassily gland ride

He glassily tufty zebra 

OderÄhnliches könnte die sehnsüchtige auditive Rechtschreibprüfung irgendeines Trottels ergeben – zumindest bis er durch das Textblatt korrigiert wird. Für alle, die es nach Sinn verlangt oder Hinweisen darauf, was man wohl von der Reise, die man mit dem Absenken der Nadel am Plattenspieler angetreten hat, erwarten kann, gibt es einen linken Haken Marke Dada vor die Kinnlade.

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Das Gedächtnis, dem das Artwork im Rückblick einleuchtet, ist ein Lügner. Oder eine Lüge. Indem er Fachkenntnisse und Arkana abspult, spinnt der Kritiker ein Netz der Allwissenheit, das den Herstellenden einhüllt, eine lichtscheue Spinne. Und nun kommen Sie pfeifend den Gang im Buchladen entlang »Hab ich ja immer gemocht, die Platte, bin gespannt, was er dazu zu sagen hat« –, um selbst im Netz des Wissens verstrickt zu werden. Und bevor Sie sich’s versehen, hat die Spinne Sie zu ihrem Doppelgänger gemacht, einem weiteren Vorsteher dieses Gespinstes aus Meinungen und Trivialitäten, die Sie auch als die eigenen vor sich hertragen dürfen. Oder vielleicht nicht dürfen, sondern müssen. Dazu gezwungen sind. Ist es Ihnen wichtig, sich zu erinnern, wie es war,»I Zimbra« zu hören, bevor ich, wie eine Kugel Eis, die in Erdnussstückchen gerollt wird, esüber undüber mit meinen Worten bedeckt (und innerlich gefüllt) habe? Dann suchen Sie besser schnell das Weite, Freund.

Wann erfuhr ich, dass Hugo Ball (1886  1927), in Deutschland geborener Dada-Poet und Verfasser von Manifesten, die Quelle dieser wie Krypto-Stammesgesänge intonierter Nonsens-Silben war, die bei»I Zimbra« als Text dienen? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Was ich aber weiß, ist, dass ich von Beginn an ein penibler Leser von Credits war, ein Verwalter von Datenpartikeln. Dort auf dem Textblatt zuFear of Music fand sich»H. Ball« als Ko-Komponist (neben D. Byrne und B. Eno) und es dauerte wahrscheinlich nicht lange, bis ich ihn entdeckt hatte. Aber trotzdem bin ich mir sicher: Esgab ein Davor. Denn ich erinnere mich schemenhaft daran, wie dieses Wissen mit meinem frühsten Misstrauen gegenüber der Verweigerungshaltung des Songs hinsichtlich jeglicher Sinnhaftigkeit kollidierte. Ich wollte partout nicht, dass diese Band aufhörte, Sinn zu stiften.

Der Junge in seinem Zimmer verlangt, dass wir bei diesem Geständnis noch einen Schritt weitergehen, die Gelegenheit nutzen und sagen, dass er, als er zum ersten Mal das Textblatt zuMore Songs About Buildings and Food unter die Lupe nahm und die Namen»A. Green und M. Hodges« als Urheber seines Lieblingspunkrockhits des Jahres 1978 entdeckte, das Pochen peinlicher Berührtheit unter einem rasch gebastelten Stanniolhütchen der Bescheidwisserei verbarg: Ach so, na sicher,»Take Me to the River« war ein alterR & B- oder Gospelsong, alles klar. Was für eine coole Geste seitens seiner Helden! Zu dieser Zeit nahm der Junge an, der Song stamme aus den Fünfzigern oder frühen Sechzigern und sei von den Talking Heads aufgepeppt worden. Der Junge erinnert sich mit absoluter Klarheit daran, wie er sich gefragt hatte, ob er wohl jemals mehrüber»A. Green und M. Hodges« erfahren würde, als die Tatsache, dass sie diesen Song geschrieben hatten.

Dann aber, läppische sieben Jahre (und siebentausend Revolutionen in Sachen Gefühle und Geschmack) später, saß dieser Junge – nicht mehr wirklich ein Junge, aber noch genug, um ihn so nennen zu können – mit seiner College-Freundin auf einer Matratze und spielte ihr ausgewählte Aufnahmen aus seiner vollständigen Sammlung originaler Al-Green-Hi-Records-Platten vor. Um damit zu prahlen, wie viel er schon wusst