Kapitel 1
»… war Emmendingen bis in die frühen Sechzigerjahre als Nadelöhr Europas bekannt und gefürchtet. Sämtliche Pkw, Lastwagen und Motorräder, die heute auf der A 5 Richtung Basel brausen, mussten hier durch.«
Lothar Kaltenbach und dieübrigen Teilnehmer der Stadtführung›Auf Cornelia Schlossers Spuren‹ betrachteten das Stadttor mit ehrfürchtigen Blicken. Kaum vorstellbar, dass sich hier, wo selbst der Stadtbus mit Vorsicht durch den engen Steinbogen kurvte, der gesamte deutsche Nord-Süd-Verkehr früher einmal durchgequält hatte.
»Da half natürlich auch der Schreckkopf nichts mehr, der im Mittelalter den Leuten unmissverständlich klar machen sollte, dass hier nur anständige Besucher willkommen waren.«
Wohlwollendes Gelächter erhob sich. Dabei sah der vergoldete Löwenkopf mit dem Ring im Maul alles andere als gefährlich aus. Schon eher die beiden als Drachenköpfe gestalteten Wasserspeier auf dem vorspringenden Dachgiebel, die aber erst in den Dreißigerjahren dazu gekommen waren.
Die Leiterin der Gruppe mühte sich geduldig. Die barocke Leibesfülle der Mittdreißigerin war in ein hellbraunes Kleid im Stil einer Dame des gehobenen Bürgertums aus dem 18. Jahrhundert gezwängt. Eine enorme Stoffmenge bauschte sich um Arme und Beine und gab nur am Hals und Dekolleté den Blick frei. Die Haare hatte sie aufgetürmt, kleine freche Löckchen ringelten sich neben golden blitzenden Ohrringen herab.
Die Frau, die neben ihrem Hauptberuf als Kleindarstellerin an einer der Freiburger Bühnen bei der Eventagentur›History Today‹ ihre Brötchen verdiente, stellte Cornelia Schlosser dar, Goethes Schwester, die an der Seite ihres Mannes im 18. Jahrhundert einige Jahre in Emmendingen gelebt hatte.
Der Dichterfürst selbst hatte die Stadt nur zweimal besucht. Beim ersten Mal klagte sie ihm ihr Leid, weitab von den städtischen Zerstreuungen Frankfurts in dem damaligen Grenzstädtchen zu Vorderösterreich leben zu müssen. Ihr Bruder sprach ihr Trost zu und war in die Schweiz weitergefahren.
Beim zweiten Besuch blieb ihm nicht mehr, als an ihrem Grab zu stehen, nachdem sie sich von den Anstrengungen der Geburt ihres zweiten Kindes nicht mehr erholt hatte und schon mit 27 Jahren gestorben war.
All dies war ihren braven Mitbürgern im Nachhinein Grund genug, ihre Stadt als wichtigen Baustein im Leben ihres berühmten Bruders zu betrachten.
»Und die Buchstaben da? Is dat Tor von den Römern jebaut worden?«
Belustigte Blicke wandten sich zu dem Sprecher mit dem unüberhörbaren westdeutschen Zungenschlag. Der wohlbeleibte Rentner im sommerlichen Touristen-Outfit mit der obligatorischen Socken-Sandalen-Kombination schwitzte und strahlteüber das ganze Gesicht. Er sah es offenbar als seine Aufgabe an, den akademischen Ernst der Führung mit gezielter rheinischer Fröhlichkeit aufzupeppen.
Cornelia Schlosser lächelte pflichtschuldigst.»Die Zahlen stellen natürlich das Jahr der Renovierung dar«, erläuterte sie charmant.»Wer weiß es als Erster?«
Ein Teil der Gäste begann tatsächlich, ihr lange verschüttetes Schulwissenüber die großen Ms, Cs und Ls hervorzukramen.
Lothar Kaltenbach seufzte und sah wehmütig zu der nahe gelegenen Eisdiele hinüber. Ein paar Emmendinger hatten es sich in den noch spärlichen Strahlen der Aprilsonne an den wenigen Tischchen im Freien gemütlich gemacht. Der Duft von Cappuccino wehte herüber, eifrig wurde an Eisbechern herumgelöffelt.
»Ich weiß nicht, ob ich das noch lange mitmache«, raunte Kaltenbach seinem Begleiter zu, der sich während der ganzen Führung eifrig Notizen machte und gerade versuchte, mit seiner Nikon Stadttor und Touristengruppe bestmöglich abzulichten.
»Schadet dir gar nichts«, entgegnete er spöttisch, während er auf den Rand eines mit gelben und roten Tulpen bepflanzten Blumenkübels stieg.»Außerdem müssen für den Goethesommer Opfer gebracht werden.« Er sprang wieder herunter und kritzelte etwas in seinen Notizblock.»Von jedem.«
Kaltenbach verzog die Mundwinkel. Er konnte sich Besseres vorstellen, als zwei wertvolle Stunden bei bestem Wetter mit einer Gruppe Touristen durch die Stadt zu laufen und sich Geschichten aus längst verstaubten Zeiten anzuhören. Sein alter Kumpel Adi Grafmüller wurde wenigstens bezahlt dafür, dass er als Lokalredakteur der Badischen Zeitung berichtete. Seit er vor ein paar Monaten aus seinem unfreiwilligen Exil in Lörrach zurückgekehrt war, hatte er sichtlich Gefallen an seiner Heimatstadt wiedergefunden, was sich in seinen gut recherchierten und pfiffig geschriebenen Artikeln niederschlug.
Eben setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung. Die Anführerin wogte unter dem Stadttor hindurch in die Fußgängerzone Richtung Innenstadt.
Kaltenbach riss sich von dem Anb