: Robert von Ranke-Graves
: Ich, Claudius, Kaiser und Gott
: Ullstein
: 9783843708036
: 1
: CHF 12.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Claudius, Kaiser wider Willen, der im Herzen ein überzeugter Demokrat geblieben ist, von seiner vierten Frau, Agrippina, der Mutter Neros, vergiftet - seinem Schicksal nicht entging: Dieser Herrscher ist im Urteil der Zeitgenossen schlecht weggekommen. Von Ranke Graves unternimmt mit seinem Werk eine Art historische Ehrenrettung. Er würdigt Claudius als einen besonnenen, klugen Monarchen der, aus einer Laune heraus auf den Thron gesetzt, regieren musste und konnte. Das klassische Meisterwerk des amüsant-ironischen Romans lässt auf spannende und unterhaltsame Weise die römische Geschichte wieder lebendig werden und weicht dabei nie von den historischen Fakten ab. Ein berühmt gewordenes, in 16 Sprachen übersetztes Buch mit einer deutschen Gesamtauflage von über 1 Million Exemplaren.

Erstes Kapitel

Ich, Tiberius Claudius Drusus Nero Germanicus und so weiter– denn ich will nicht durch die Aufzählung meiner Titel ermüden –, der ich vor noch nicht langer Zeit bei meinen Freunden und Verwandten und Mitarbeitern bekannt war als»Claudius der Idiot« oder»Claudius der Stotterer« oder»Clau-Clau-Claudius« oder bestenfalls noch als»der gute Onkel Claudius«, habe mich entschlossen, die seltsame Geschichte meines Lebens zu schreiben.

Dies ist nicht etwa mein erstes Buch. Literatur, besonders Geschichtsschreibung, war mein einziges Interesse, meine einzige Beschäftigung für mehr als fünfunddreißig Jahre. Meine Leser dürfen deshalb nicht erstaunt seinüber meinen gewandten Stil: Es ist wirklich Claudius selbst, der dieses Buch schreibt, und nicht etwa einer seiner Sekretäre oder gar einer jener offiziellen Chronisten, denen Leute, die imöffentlichen Leben stehen, ihre Erinnerungen anzuvertrauen pflegen– in der Hoffnung, daß gewandter Stil der Dürftigkeit ihrer Erlebnisse Bedeutung verleiht und daß Schmeichelei ihre Laster verdeckt. Ich schwöre bei allen Göttern, daß ich das vorliegende Buch bis auf die letzte Silbe selbst schreiben werde, denn dürftig sind meine Erlebnisse nicht, und wie könnte ich vor mir bestehen, wenn ich mir schmeichelte? Ich muß hinzufügen, daß dies nicht die erste Geschichte meines Lebens ist, die ich geschrieben habe. Vor zwei Jahren habe ich eine andere verfaßt, in acht Bänden, für die Archive der Stadt. Ich diktierte die ersten vier Bände meinem griechischen Sekretär, und da ich späterhin sehr durch andere Dinge beschäftigt war, ließ ich ihn die zweite Hälfte aus dem Material, das ich ihm gab, selbst zusammenstellen. Und er paßte seinen Stil so genau dem meinen an, daß aus dem fertigen Werk niemand erkennen konnte, welche Teile von mir waren und welche von ihm.

Es wurde ein trockenes Buch, jene erste Selbstbiographie. Ich war damals nicht imstande, Kritik am Kaiser Augustus zuüben, meinem Großonkel mütterlicherseits, oder an seiner dritten und letzten Frau, der Kaiserin Livia, meiner Großmutter, weil sie gerade zu Göttern erhoben worden waren und ich ein Priesteramt bekleidete, das mit ihrem Kult verbunden war. So wurde das erste Buch nur eine Aufzählung von Tatsachen. Ich erzählte zwar keine Lügen, aber auch nicht die Wahrheit in dem Sinn, wie ich sie jetzt zu erzählen gedenke.

Denn dieses Buch soll ein vertrauliches Buch sein. Man könnte fragen: Wer sind meine Vertrauten? Meine Antwort ist: Dieses Buch ist für die Nachwelt bestimmt. Ich meine damit nicht meine Urenkel oder meine Ururenkel, ich meine die entfernteste Nachwelt. Doch hoffe ich, daß ihr, die ihr midi vielleicht einige hundert Generationen später lest, euch direkt von mir angesprochen fühlt, als sei ich euer Zeitgenosse, wie es mir oft mit Herodot und Thukydides ergeht, die schon lange tot sind. Aber warum rechne ich so sehr mit einer ganz entfernten Nachwelt? Ich will es erklären.

Vor ungefähr achtzehn Jahren ging ich nach Cumae, in Campanien, um die Sibylle in ihrer Höhle am Berge Gaurus zu besuchen. Es gibt immer eine Sibylle in Cumae, denn wenn eine stirbt, wird die von ihr herangebildete Novizin ihre Nachfolgerin. Aber nicht alle sind gleichmäßig berühmt. Manche hat Apollo in den langen Jahren ihres Dienstes nicht mit einer einzigen Prophezeiung begnadet. Andere wiederäußern zwar Prophezeiungen, aber sie scheinen sich mehr an Bacchus als an Apollo zu entzünden. Bevor mir gestattet wurde, die Sibylle zu besuchen, mußte ich der Diana ein Schaf und dem Apollo einen jungen Stier opfern.

Es war ein kalter Dezembertag. Ich kam vermummt, aber die Sibylle erkannte mich. Wahrscheinlich hat mich mein Stottern verraten. Ich stotterte wie ein Kind. Obwohl ich– unter der Anweisung von Redekünstlern– allmählich gelernt habe, beiöffentlichen Gelegenheiten mein Wort in der Gewalt zu behalten, passiert es mir doch bei privaten und unvorhergesehenen Anlässen– nur nicht mehr so häufig wie früher –, daß ich aus Nervositätüber meine eigene Zunge stolpere, und so erging es mir auch an jenem Tag in Cumae.

Ich betrat das Innere der Höhle, das mir Grauen einflößte, und sah die Sibylle, mehr einem Affen gleichend als einer Frau. Sie saß auf einem Stuhl in einem Käfig, der von der Decke herabhing. Ihr Gewand war rot, und ihr starres Auge erschien ebenso rot in dem einzigen roten Lichtstrahl, der von irgendwoher aus der Höhle herabfiel. Ihr zahnloser Mund grinste. Rund um mich herum spürte ich Todesgeruch. Aber es gelang mir, die Begrüßungsworte auszusprechen, die ich mir eingeübt hatte. Sie gab keine Antwort. Und es dauerte tatsächlich geraume Zeit, bis ich bemerkte, daß ich vor dem mumifizierten Körper der früheren Sibylle stand, die kürzlich im Alter von hundertundzehn Jahren gestorben war. Ihre Augenlider wurden durch Glaskugeln offengehalten, damit es aussehe, als ob die Augen noch leuchteten. Die amtierende Sibylle pflegt immer mit ihrer Vorgängerin zusammen zu leben.

Es schien mir eine Unendlichkeit zu sein, die ich so vor der Toten stand, innerlich schaudernd, aber liebenswürdige G