: Lisa Wingate
: Moses Lake
: Francke-Buch
: 9783868279023
: 1
: CHF 11.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 384
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Sozialarbeiterin Andrea Henderson zieht mit ihrem Sohn an den schönen Moses Lake. Nach ihrer Scheidung will sie ein neues Leben beginnen. Doch das Einleben gestaltet sich schwieriger als erwartet, sowohl beruflich als auch privat. Zum Glück lernt sie den attraktiven Ranger Mart McClendon kennen. Er hilft ihr bei der Bearbeitung eines mysteriösen Falls: In einer windschiefen Hütte oberhalb des Sees wohnen der alte Len und ein kleines Mädchen. Niemand weiß, wer sie ist und wie sie zu ihm kam. Nach und nach kann Andrea das Vertrauen der Kleinen gewinnen. Doch dann spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu und die zwei geraten in eine äußerst gefährliche Situation... Ein spannender, humorvoller und tiefgründiger Roman mit grandiosen Landschaftsbeschreibungen. (718 Z.)

Lisa Wingate arbeitet als Journalistin, Kolumnistin, Rednerin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Texas.

Kapitel 2

Wenn du mit dem Boot in seichtes Gewässer fährst,
solltest du wissen, wo die versunkenen Baumstümpfe sind.

Anonym
(an die Wand der Weisheit imWaterbird Fischköder-
und Lebensmittelladen
geschrieben)

*

Mart McClendon

Über den Hügeln auf der anderen Seeseite braute sich ein Sommergewitter zusammen. Nur ein kleiner Sturm, aber wenn er weiterhin in diese Richtung zog, würde er die Touristen vom See vertreiben und ihnen den Badetag verderben. Etwas, das ich in meiner kurzen Zeit hier gelernt hatte, war, dass man das Wetter nicht vorhersagen konnte. Und auch sonst nicht viel. Am Moses Lake war die Wahrscheinlichkeit, dass das Unerwartete eintraf, genauso groß wie die Chance, dass das Erwartete eintraf. Für Leute, die gern planten, Tagesabläufe festlegten und ein elektronisches Gerät am Gürtel hängen hatten, war Moses Lake nur ein Punkt auf der Landkarte, an dem man bei einem Sonntagsausflug vorbeifuhr. Vielleicht hielt man am Aussichtspunktüber der Eagle Eye Bridge an und sah zu, wie die Wochenendausflügler mit ihren Wasserskiern und kleinen Segelbootenüber die Wasserfläche glitten.

Diejenigen, die auf Abenteuer aus waren, bogen vielleicht in der Nähe des Damms von der Hauptstraße ab und kauften sich ein Sandwich im Fischköder- und LebensmittelladenWaterbird. Oder sie fuhren den holprigen Weg durch die Bäume hinab, mieteten sich eine Hütte oder buchten eine Kanufahrt. Es konnte sein, dass diese halbtägige Kanufahrt oder der Kurzurlaub am See nichts weiter war als eine ruhige, entspannende Abwechslung zu dem Leben, aus dem sie kamen. Wenn sie Glück hatten.

Der Moses Lake hatte unbestreitbar ein Eigenleben. Man könnte zwanzig Leute fragen, warum das so war, und bekäme zwanzig verschiedene Antworten. Von Indianerlegenden zu Geistergeschichten bis hin zu der unheimlichen Stimme der Klagenden Frau, die angeblich von den Klippen am Eagle Eye herunterhallte. Einige behaupteten, der See werde von den ruhelosen Geistern der Menschen aus den Bauernhöfen und Städten verfolgt, die unter hundert Quadratkilometern Wasser versenkt wurden, als das Pionierkorps in den Fünfzigerjahren das Land enteignet und den Damm gebaut hatte. Andere behaupteten, es sei der Name:Moses Lake. Mose war vierzig Jahre durch die Wüste gezogen, bevor er Ruhe fand, und selbst dann durfte er das Verheißene Land nicht betreten.

Wennich nach meiner Meinung gefragt würde, wäre meine Antwort: Es ist das Wasser. Wasser hat etwas an sich, das die verschiedensten Menschen anzieht und in ihnen Impulse weckt, von denen sie vorher keine Ahnung hatten.

Man konnte nie sagen, wer in Moses Lake auftauchte und was passierte. Nach knapp einem halben Jahr als Ranger im südlichen Teil dieses Bezirks war ich zu dem Schluss gekommen, dass das Leben in Moses Lake genauso unberechenbar war wie das Wetter. Das musste der Grund sein, warum meine Familie vor ungefähr zwanzig Jahren nicht länger als unbedingt nötig in dieser Gegend geblieben war. Sobald mein Vater seine Arbeit am Bau des Wasserkraftwerks abgeschlossen hatte, hatte er unsere Mutter und uns vier Jungen ins Auto verfrachtet und so schnell wie möglich das Weite gesucht. Wir waren schließlich in Südwesttexas gelandet, wo das Wetter, die Menschen und der Lebensrhythmus berechenbar waren. Dort unten imBig-Bend-Land, dem einzigartig schönen Nationalpark am Rio Grande, war es ruhig, freundlich, friedlich und idyllisch gewesen– sofern man eine ungehinderte Sicht in die Ferne und einen weiten Himmel liebte.

Aber ich hatte jahrelang nichts anderes hören können als den Moses Lake, dessen Wellen ans Ufer meiner Erinnerung rollten und mich nach Hause riefen– zu dem Ort, der für mich als Junge etwas ganz Besonderes gewesen war. Als die Zeit kam, das Big-Bend-Land endgültig zu verlassen, hatte ich meine Sachen gepackt und war nach Moses Lake gefahren.

Ich hatte den Ort genauso vorgefunden, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Genau das brauchte ich. Nichts in Moses Lake erinnerte an das, was im Big Bend passiert war. Hier