Kapitel 1
»Nimm deinen Hintern aus meinem Gesicht.«
Bernhards Bewusstsein wühlte sich aus der Watte des Halbschlafs hervor. Er lag in eine dicke Wolldecke eingerollt auf dem Bretterboden des Hochsitzes, der bei der kleinsten Bewegung schwankte, als könnte er jeden Moment umstürzen. Es war stockdunkel. Bernhards rechter Arm war eingeschlafen, und er drehte sich ein Stück zur Seite, um ihn zu befreien. Als er sich dabei ausstreckte, stießen seine Füße an etwas Weiches.
»Au! Das war mein Bauch, du Grobian!«
Georg wälzte sich hinter ihm herum. Die Stelzen des Hochsitzesächzten dabei leicht. Bernhard wurde unsanft zur Seite geschoben, als sich Georg raschelnd aufrichtete.
»Bist du wach?«, fragte Bernhard.
»Jetzt ja.«
Bernhard stemmte sich hoch, bis erüber den Rand des Hochsitzes blicken konnte.Über ihnen schwoll das Rauschen der Baumwipfel im Wind an und wieder ab und zwischen den Blättern blinzelten ein paar Sterne durch. Tief unten auf dem Waldboden war alles still. Von irgendwoher kam ein hohes, gepresstes Gurren.
Georg schob sich neben ihn.»Ist das ein Specht?«
»Ein Ziegenmelker.«
»Was soll das denn sein?«
»Eine Art Schwalbe.«
»Bescheuerter Name. Und der melkt jetzt seine kleine Ziegenherde oder was?«
»Er markiert sein Revier.«
»Eins sag ich dir, wenn der bis zum Sonnenaufgang Rabatz macht, dann dreh ich ihm persönlich den Hals um.«
Sie lauschten nebeneinander in die Dunkelheit hinein. Der Hochsitz stand am Waldrand in einer Gruppe von schlanken Buchen mit Blick auf einen riesigen Kartoffelacker. Mittenüber das Feld lief, wie mit dem Lineal gezogen und in der Dunkelheit gerade so zu erahnen, ein Bahndamm. Ansonsten war der Acker eine dunkelgraue Masse ohne jede Kontur.
Georg schnupperte.»Es stinkt.«
»Ich war’s nicht.«
»Sehr witzig. Das ist der blöde Rehkadaver da unten, der ist schon halb vergammelt. An den geht er nie im Leben ran.«
Bernhard blickte in das fahle Oval von Georgs Gesicht.»Verlass dich drauf. Das Reh hat er vorgestern gerissen. Der kommt wieder.«
»Echt ekelhaft.«
»Hab ich dich gezwungen mitzukommen?«
»Nee. Aber wenn ich vorher gewusst hätte, wie unbequem es auf diesem doofen Hochsitz ist…«
»Nun hört euch das an«, unterbrach Bernhard seinen Freund näselnd.»Die Gräfin hatte eine unbequeme Nacht. Soll ich nach der Zofe läuten, damit sie die Seidenkissen holt?«
»Blödmann.«
»Und ein Fläschchen mit Rosenwasser gegen den strengen Geruch?«
»Arsch.«
»Sei mal leise«, flüsterte Bernhard.»Da war was.«
Im Unterholz hatte etwas zu rascheln begonnen. Der Luchs, dachte Bernhard. Er stand auf, beugte sichüber die Brüstung und starrte angestrengt nach unten, dorthin, wo die Kamera installiert war. Wochenlang hatte er an Stativen herumgeschweißt, das Blitzgerät justiert und am Auslösemechanismus getüftelt. Jetzt befand sich dort unten eine raffinierte Fotofalle für den Luchs, den noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte.
Eigentlich durfte es ihn gar nicht geben. Luchse waren hier seit hundertfünfzig Jahren ausgestorben. Aber im April hatte Bernhard neben einer Pfütze im aufgeweichten Waldboden eine frische Fährte entdeckt und ein paar Tage später noch eine. Danach ein paar Wochen lang nichts. Und gestern dann das gerissene Reh, daneben wieder die viel zu großen Katzenspuren. Es gab ihn, den Luchs, irgendwo in diesem Wald strich er umher, eingewandert aus den Karpaten oder aus dem Böhmerwald oder weiß Gott woher. Er war da, und das war eine Sensation, auch wenn es außer Bernhard niemanden interessierte. Am allerwenigsten Georg, die alte Mimose.
Wieder raschelte es. Ein aufgeregtes Flattern erhob sich. Unsichtbares Flügelschlagen taumelte durch die Luft und erstarb. Nur so ein dämlicher Vogel. Wahrscheinlich würde es bald hell werden. Bernhard ließ sich auf die Knie zurücksinken.
Georg schimpfte flüsternd weiter:»Wenn er heute Nacht nicht auftaucht, dann kannst du morgen wieder allein hier hocken.«
»Dann bleib doch zu Hause«, wisperte Bernhard leicht gereizt.»Prinzessin auf der Erbse!«
Hinter dem Bahndamm war ein bläulicher Schimmer zu erahnen, den der schwarze Himmel aufzusaugen begann wie Löschpapier. Noch war es dunkel, aber als Bernhard den Kopf wi