: Jörg Schindler
: Stadt - Land - Überfluss Warum wir weniger brauchen als wir haben
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104029436
: Fischer Paperback
: 1
: CHF 13.00
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es ist verblüffend, wir waren noch nie so frei und individuell und selbstbestimmt. Noch nie stand uns eine größere Auswahl an Arbeits- und Lebensentwürfen zur Verfügung. Und selten waren wir so gestresst und frustriert. Egal, welche Arbeit wir haben: Sie macht keinen Spaß. Egal, wie viel Geld wir haben: Es reicht nicht aus. Egal, wie viel Zeit wir sparen: Sie ist zu knapp. Egal, wie groß die Auswahl ist: Sie macht uns nicht glücklicher. Aber es geht auch anders. Jörg Schindler erzählt von Menschen, die nach- und umgedacht haben: ungewöhnliche Geschichten aus unserem Land des Überflusses. Immer billiger: Essen Immer schöner: Körperkult Immer kränker: Medizin Immer mehr: Arbeit Immer weiter: Reisen Immer teurer: Fußball Immer schwerer: Autos Immer alles: Shoppen Immer atemloser: Kommunikation Immer schneller: Alltag

Jörg Schindler, geboren 1968 in Darmstadt, studierte Germanistik, Anglistik und Soziologie in Frankfurt am Main und Edinburgh. Er war Nachrichtenredakteur und Reporter bei der »Frankfurter Rundschau«, seit 2012 arbeitet er beim Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« und ist dort für die Themen Terrorismus und Innere Sicherheit zuständig. Jörg Schindler wurde 2009 zusammen mit seinem Kollegen Matthias Thieme mit dem Wächterpreis für investigativen Journalismus ausgezeichnet und erhielt 2014 mit mehreren SPIEGEL -Redakteuren den Henri-Nannen- Preis für die beste investigative Leistung für Artikel zur NSA -Affäre. Literaturpreise: ?Stadt, Land, Überfluss? wurde von der Deutschen Umweltstiftung ausgezeichnet als »Umweltbuch des Monats Oktober 2014« für »eine besonders wichtige und kritische Auseinandersetzung mit dem modernen Konsumverhalten«.

Einleitung


»Wir werden immer maßloser. Immer größere Autos, immer weiter fort in den Urlaub. Etwas mehr natürliche Bescheidenheit würde uns gut tun.«

Uli Hoeneß

Neulich war ich mit meiner Frau in der Eisdiele. Wir hatten es etwas eilig, glücklicherweise war die Schlange nicht allzu lang. Es hat dann trotzdem ein bisschen länger gedauert. Vor uns war eine Mutter mit ihren zwei Kindern dran, vielleicht acht und vier Jahre alt.

»Schau mal, Jonas, die haben auch Butterkeks, das magst du doch«, sagte die Frau zu ihrem Jüngsten.

»Öh …«, machte das Kind.

»Oder lieber Schlumpfeis? Und guck mal: Nutella!«

»Hmmpfff …«, machte das Kind.

»Dann nehmen wir jetzt einmal Butterkeks und einmal Schlumpf«, sagte die Mutter.

»Nein!«, schrie da das Kind, »drei!!!«

Es folgte eine längere Diskussion über das gesundheitliche Für und Wider großer Eismengen, die Vorzüge von Keksstückchen in cremigen Bällchen und mögliche Sanktionen bei fortgesetztem Trotz, die schließlich in einen Kompromiss aus zwei Kugeln mit bunten Streuseln mündete. Als sie über den Tresen gereicht waren, schaute das Kind trotzdem etwas bedröppelt. »Will aber Schokolade!«, rief es im Weggehen. Der Rest verhallte weitgehend ungehört.

Ich muss gestehen: Mir geht es gelegentlich wie Jonas, ich kann mich einfach nicht entscheiden. Als wir vor acht Jahren in unser Viertel zogen, gab es im Umkreis von einem Kilometer genau eine Eisdiele, sie muss so um die15 Sorten angeboten haben, ich glaube, die exotischste war Tiramisu. Heute hat jede zweite Straße im Kiez einen Eisdealer, die wollen auch leben, klar – wahrscheinlich überbieten sie sich deshalb von Sommer zu Sommer mit lustigeren Sorten. Gerade erst habe ich Litschi-Sauerrahm, Weiße Schokolade-Ingwer und Ziegenmilch-Erdbeere probiert. An Gurke-Zimt, Avocado-Chilli und Guinness habe ich mich noch nicht so recht rangetraut, wahrscheinlich bin ich altmodisch, aber ich finde, Eis sollte etwas Süßes sein. Komischerweise kann ich fast nirgendwo mehr Malaga entdecken. Egal, habe ich eh nie gemocht. Ich hasse Rosinen.

Manche der Läden gleich um die Ecke haben inzwischen40 Sorten im Angebot. Gleichzeitig. Drüben in Westberlin soll es sogar eine Diele mit99 Geschmäckern geben. Wobei ich vermute, dass da auch ordentlich Auswahl für Diabetiker und Veganer dabei ist, ein bisschen was mit Sojamilch und das eine oder andere Laktosefreie. Aber trotzdem,99 Sorten, das ist schon ein Wort. Dafür reicht nicht mal ein ausgiebiger Sommer. Die Kugeln sind nämlich auch stetig größer geworden, leider bin ich heute immer schon nach zweien pappsatt. Zumal man jetzt ja meistens auch den Becher vertilgen kann. Er besteht aus irgendetwas Essbarem. Vermutlich sogar bio. Ich weiß nicht, wie es anderswo ist – aber ich glaube, eismäßig sind wir in Berlin ganz gut aufgestellt.

 

Manchmal beschleicht mich jedoch ein etwas komisches Gefühl. Würden wir etwas vermissen, wenn es, sagen wir: nur30 Sorten gäbe? Wer denkt sich die anderen alle aus? Und wieso? Gibt es Menschen, die im Herbst zum Eismann gehen und sagen: Du, ich hätte nächste Saison gerne ein Eis aus70-prozentiger ecuadorianischer Schokolade und einem Hauch mexikanischer Jalapeños? Wer weiß.

Bitte, ich gönne jedem seine Rosinen, aber ganz ehrlich: Mich überfordert das Angebot bisweilen. Zumal es ja nicht nur beim Eis immer weiter zunimmt. Schauen Sie in den Supermarkt. Glücklicherweise haben wir kein Haustier. Aber ich vermute, bis ich bei Kaufland oder Rewe die20 Meter Hunde-, Katzen-, Hamsterfutter abgeschritten, die Preise verglichen, die Nährstoffe begriffen und die Auswahl getroffen hätte, wäre zu Hause mein Pudel verhungert. Und wenn nicht alles täuscht, bauen die jedes Jahr einen Meter an. Keine Ahnung, wieso. Machen uns24 Anti-Schuppen-Shampoos glücklicher als23? Ich habe meine Zweifel.

Trotzdem eröffnen in den Innenstädten immer mehr und immer