I. Europas Kirchen in Europas Diktaturen(1917–1945)
Rechtsautoritäre Regime entstanden in katholischen Gesellschaften, ob romanisch (Portugal, Spanien, Italien) oder nichtromanisch (Österreich, Litauen, Polen), im gemischtkonfessionellen Deutschland und Jugoslawien, im orthodoxen Griechenland unter Metaxas und der muslimischen Türkei unter Atatürk, nicht aber in stärker protestantisch geprägten Ländern wie den Niederlanden, Dänemark, Norwegen, Schweden, der Schweiz und Großbritannien.1
Waren Katholiken anfälliger für autoritäre Regime? Dem stehen Irland, Belgien und Luxemburg entgegen. Auch der deutsche Katholizismus gilt als relativ immun gegenüber den Verlockungen des Nationalsozialismus, obwohl er zunächst im katholischen Münchner Mikromilieu ausgebrütet wurde. Zur Erklärung ringen zwei große Thesen miteinander: Die eine besagt, diese menschenverachtende Ideologie und ihr totalitärer Anspruch seien mit den Moralprinzipien der Kirche unvereinbar gewesen. Aus Nächstenliebe und christlichem Antrieb heraus hätten Katholiken dem Rassismus und der Aushöhlung bürgerlicher Rechte widersagt.
Die Gegenthese betont, dass sich auch Katholiken mit den vielschichtigen Versprechungen und Erfolgen des Nationalsozialismus anfreunden konnten. Habe es Widerstand gegeben, dann nicht gegen das Regime als solches, sondern gegen die Gefährdung der Rechte der Kirche, etwa beim Religionsunterricht, gespeist nicht aus universal-menschenrechtlichen oder gar demokratischen, sondern aus milieuegoistischen Motiven. Gegenüber dem Leiden anderer und der Einschränkung zivilgesellschaftlicher Freiheiten sei man indifferent gewesen.
Obwohl das NS-Regime die Extremform europäischer Faschismen bildete, kann der internationale Vergleich erhellen, wie weit die gegensätzlichen Deutungen tragen. Ging es um Menschenrechte oder um Kirchenrechte und Selbstschutz? Galt Gläubigen die Allianz mit einem brutalen Regime generell als unchristlich oder nur dann, wenn es gegen die Kirche vorging? Wenn evangelische und katholische Christen sich gut in totalitären Regimen einrichten konnten, solange sie davon profitierten, ergeben sich Rückschlüsse auf Handlungsmotive im deutschen Kontext. Der Vergleich hilft, die Faktoren zu isolieren, die Christen in Deutschland zu ihrer je eigenen Position hinsichtlich der NS-Diktatur führten.
Dieser europäische Rundblick muss sich auf die Katholiken konzentrieren. Für sie gilt die Unvereinbarkeitsthese noch immer viel stärker als für Protestanten. Deren Hinneigung zur NS-Diktatur hat man längst eingesehen. Ferner lässt sich den in romanischen Ländern nachgerade winzigen evangelischen Minderheiten, in Italien 0,2 %, kaum anlasten, sie hätten diese in den Faschismus gestürzt. Umso wichtiger war die Rolle des Protestantismus in Deutschland.
Europa 1937: Dominierende Konfessionen und Regime
Zwei Schreckgespenster standen Gläubigen seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen: der radikalisierte bürgerliche Laizismus einerseits und der Kommunismus andererseits. Aus beiden Bedrohungen zogen sie Schlüsse für ihre Entscheidungen in den 1920er und 1930er Jahren. Seit den Kulturkämpfen drohte erneut die Gefahr der Trennung von Staat und Kirche. Frankreich hatte sie 1905 radikal durchgeführt, Portugal 1911, Russland 1918. Die Oktoberrevolution 1917 hatte eine neue Epoche eingeläutet. Die Bolschewisten verfolgten die Kirche, sie verhafteten, exilierten oder ermordeten Bischöfe. Zwar hatte es früher schon barbarische Priesterverfolgungen gegeben, etwa in Spanien, doch die Oktoberzäsur und der Bolschewismus bildeten das beste Argument, um Rechtsdiktaturen milder zu beurteilen.
Seit der dritten Revolution 1917 wurde in derSowjetunion die Säkularisierung brutal durchgesetzt. Eigentlich wollte Lenin die russisch-orthodoxe Kirche ganz ausschalten. Sie stand mit den zaristischen Feinden im Bunde und konkurrierte um die Deutungshoheit. Die alte Religion sollte verderben, der Sozialismus sie ersetzen. Seit Jahrhunderten waren Staat und Kirche eng verbunden. 1721 hatte Zar Peter der Große die Kirche seinem staatskirchlichen Regiment unterworfen, aber im Zuge der zweiten russischen Revolution vom Februar 1917 befreite sie sich davon. Das landesweite Konzil im August 1917 wählte erstmals seit 1721 wieder einen Patriarchen. Die kurze Renaissance wurde von der dritten Revolution jähüberrollt. Schon im Januar 1918 verfügte ein Dekret die Loslösung der Kirche von Staat und Schule. Alle Privilegien wurden abgeschafft, aus amtlichen Dokumenten wurde jeder Hinweisüber die religiöse Zugehörigkeit getilgt. Staatliche Personenstandsbücher registrierten Eheschließungen und Geburten. Das gesamte Vermögen der kirchlichen und religiösen Gesellschaften wurde»Volkseigentum«. Der Staat schaffte Klöster ab, kirchliche Zeitungen, Hochschulen und Priesterseminare. Verweigerten Metropoliten und Geistliche die Heraus