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»Stell doch mal einer die Musik ab, so kann kein Mensch arbeiten, verdammt noch mal!« Dr. Ulrich Majonika stand vor der Toten, die auf dem terrakottafarbenen Steinboden lag.
Hauptkommissarin Katja Sommer zog die Augenbrauen hoch. So barsch kannte sie den Rechtsmediziner gar nicht. Sie blinzelte, die Mittagssonne blendete sie.
»Gott, was für ein Szenario. Wer denkt sich so etwas nur aus?«
»Wenn ich das wüsste, säße ich mit demjenigen bereits im Büround könnte gleich meinen Urlaub antreten.« Während Majonika die Halswirbel des vor ihm liegenden Opfers untersuchte, blickte Katja missmutig zum Leiter der KTU, Konrad Vohwinkel, der sich vor die Stereoanlage gehockt hatte. Was kümmerte der sich jetzt darum, die Musik auszustellen? Hatte der nichts Besseres zu tun?»Seid ihr jetzt bald so weit?«, blaffte sie ihn an.
Vohwinkel zog die Gummihandschuhe ab.»Sag mal, wieso hast du eigentlich so schlechte Laune? Deine Mutter bringt dir heute deinen Sohn, das ist doch ein Grund zur Freude. Du aber machst ein Gesicht, als würde man dich zur Folter schicken. Was ist los?«
Katja winkte nur ab. Ihre private Situation gehörte nicht hierher. Sie hatten wahrlich andere Probleme, angesichts dieses Szenarios, wie Majonika es genannt hatte.
»Hast du etwas Vergleichbares schon einmal gesehen?«, wollte er nun wissen.
»Nein«, brummte sie und fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzgeschnittenes feuerrotes Haar. Vor ihr lag rücklings eine Frau mit langen braunen Locken in einem Kleid aus Taft, das Oberteil war weiß und enganliegend, der Rock, weit und bis zu den Fußknöcheln reichend, hatte die Farbe Weinrot. Ihre Füße steckten in weißen High Heels. Um sie herum waren unzählige langstielige Baccara-Rosen drapiert.»Das alles hier, das hat schon fast etwas von einem Märchen.«
»Das passt«, antwortete Majonika, während er vorsichtig mit einem feinen Skalpell unter die gepflegten Fingernägel glitt.»Aber welches Märchenwesen könnte sie darstellen? Schneewittchen oder Dornröschen?«
»Wie war das noch«, sagte Konrad Vohwinkel, der zu ihnen getreten war,»so rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz und weiß wie Schnee. Ganz klar, Schneewittchen!«
Majonika wickelte die Hand der Toten in eine Folie ein.»DasRot des Kleides ist zu dunkel für Blut, ihr Haar hat eher die Farbeeiner Maus statt der von Ebenholz, und ihr Gesicht ist durch die Strangulierung blau statt weiß. Nicht zu vergessen, dass Schneewittchen in einem Glaskasten lag, aber um diesen Leichnam sind langstielige, stachelige Rosen drapiert. Also doch Dornröschen.«
Katja sah, dass Vohwinkel zu einem Gegenargument ansetzen wollte, und unterbrach die beiden Kollegen.»Wenn man die Inszenierung nicht eindeutig einer Märchenfigur zuordnen kann, ist sie entweder nicht gelungen, oder es war gar nicht die Absicht des Mörders, uns ein Märchen zu erzählen. Daran glaube ich eher.« Sie sah Vohwinkel an.»Kannst du mir schon etwas zu der Toten sagen?«
»Sie heißt Vera Koch, ist einundvierzig Jahre alt und bewohnt mit ihrem Mann das Haus hier.« Er reichte ihr zwei Ausweise.»Sein Name ist Arnold Koch, und er ist Rechtsanwalt in einer Kanzlei in Putbus.«
Katja warf einen Blick hinein.»Und wo ist ihr Mann jetzt?«
»Keine Ahnung.« Vohwinkel zuckte mit den Schultern.»Der Augenzeuge hat gesagt, die Tür habe offen gestanden, aber es sei kein Mensch im Haus gewesen… bis auf die Tote natürlich.«
»Das Opfer«, Majonika stiegüber den Leichnam, um sich die andere Hand vorzunehmen,»hat an den Seiten der beiden Handgelenke Abriebspuren.«
»Das heißt, jemand hat sie entweder festgehalten oder festgebunden?«, fragte Katja.
»Ich vermute letzteres. Der Abrieb ist zu fein für ein gewaltsamesFesthalten.« Dann deutete er auf den toten Körper.»Ansonsten: Wie ihr selbst sehen könnt, wurde sie erdrosselt. Die Leichenstarre befindet sich noch im Ausprägungsstadium. Wir haben augenblicklich eine Raumtemperatur von vierundzwanzig Grad, sie wiegt etwa fünfzig Kilo. Dann haben wir Leichenflecken«, er deutete auf den Körper,»hier an der Brust, am Bauch, und am Rücken sowieso. Die Flecken lassen sich teilweise noch vollständig wegdrücken. Alles in allem würde ich sagen, der Mord liegt nicht länger als drei Stunden zurück.«
Ein Blick auf das Smartphone verriet Katja die Uhrzeit: 13.10 Uhr.»Heute Morgen so gegen zehn also«, stellte sie fest.
»Katja, bist du schon im oberen Stockwerk gewesen?« Michael Heinrichsen stand im Türrahmen, vom Erkerfenster fiel ein Sonnenstrahl direkt auf sein Gesicht. Er zog eine Grimasse und legte eine Hand schützend vor die Augen.
»Nein, ich gehe hoch, wenn ich hier unten fertig bin. Sprich du doch bitte einmal mit den Nachbarn, ja?«
Heinrichsen nickte ernst und ging. Was für ein Tag. Heute hattesie Bereitschaftsdienst bis achtzehn Uhr, danach sollte ihr Urlaub beginnen, den sie mit ihrem Sohn verbringen wollte. Ihre Mutter war mit ihm auf dem Weg zu ihr. Doch dann war vorhin der Anruf gekommen, und das Mordopfer war nun ihr Fall. Sie hatte ihn zu bearbeiten, bis er gelöst war. Sie seufzte. Konrad Vohwinkel hatte Recht. Ihre Laune war in der Tat nicht die beste. Und das schon eine ganze Zeit lang.
Seit etwa vier Wochen war Sven Widahn nun ihr Vorgesetzter. Sie beide hatten sich um den Posten beworben, er hatte die Stelle bekommen. Auf ihre Frage, warum er ausgewählt worden war, hatte sie eine Antwort erhalten, mit der sie nicht einverstanden war, auch wenn sie es nicht laut aussprach: Mehr Berufserfahrung. Er war schon länger im Dienst, das konnte sie nicht leugnen. Schli