: Christine Trüb
: Ach der Roman
: Limbus Verlag
: 9783990390351
: 1
: CHF 4.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 132
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Schwieriges Erwachsenwerden Tiefste Bürgerlichkeit, 1950er und 1960er Jahre: Ein Sohn wächst heran, ohne Geschwister und eigentlich auch ohne Mutter und Vater, deren Leben sich ganz woanders abspielen: in der Geltungssucht, in der Gier nach Materiellem, in der Blindheit für einen anderen Menschen. Nicht wahrgenommen und sich seiner selbst wenig bewusst quält sich ein Kind, suchend und sich sehnend (aber wonach?) und immer wieder verraten und enttäuscht.

Christine Trüb, geboren in Berlin, aufgewachsen in Paris, Bern, Zürich und London. Ausbildung in Gesang, Sprechtechnik und Logopädie, lebt mit ihrer Familie in Zürich. Jahrelang redaktionelle und übersetzerische Betreuung einer Zeitschrift von 'Terre des hommes'. Von 1984 bis 1997 freie Mitarbeiterin der Beilage Wochenende der Neuen Zürcher Zeitung. Bei Limbus: Ach der (2009, als Limbus TB 2013), Die Liebe der beiden Frauen zu den Gärten (2011), Sonntagmorgen (2014).

II

Er sagte, ich will meine Geschichte hinter mich bringen, sie ohne Umschweife vorantreiben. Die Wochen in Frankreich sind vorüber. Der Winter wird kommen, die Zeit drängt. Ende nächster Woche werde ich dreiundfünfzig. Damals war ich sechs geworden. Ich wartete im grün gestrichenen Flur. Die Mutter kaufteÄpfel und Birnen. Jetzt wusste ich, was sie damit machte. Dabei sein durfte ich nicht. Beim täglichen Apfelmus sagte sie, das sind dieÄpfel der Bäuerin S. Sie schleppte Gläser nach Hause, ich musste ihr beim Auspacken helfen. Grün waren sie. Wie die Birnen hineinkamen, wusste ich nicht. Plötzlich waren sie drin, große helle Fische, die sich in einer Flüssigkeit aneinanderschmiegten. Dann verschwanden die Gläser und tauchten erst an Weihnachten wieder auf.

„Ach der.“ Das war einmal. Als wir noch in jenem Haus am Hang wohnten. Als ich hinausblicken konnte ins Weite. Als ich ein Stück Welt sah, Bilder, die sich bewegten, und andere, die stillstanden und die trotzdem seit dem Vortag eine Veränderung erfahren hatten. Ich allein schien sie zu bemerken. Zeit hatte ich, viel Zeit. Die fehlt mir jetzt. Seit meinem Geburtstag damals hatte sich die Stimmung verändert. Schlagartig, wie mir schien. Sozusagen von Stund an. Nein. Nichts Gehobenes, abgesehen von einer höheren Tonlage und dem Anschwellen der Stimmen. Die Eltern taten sich keinen Zwang mehr an. Oder war ich es, der aufmerksamer geworden war. Sie konnten mich nicht wie früher ins Bett schicken. Ob ich wollte oder nicht, ich musste dabeisein. Mittendrin und ausgeschlossen. Ich sehe, wie wir die Servietten auseinanderfalten, ich höre, wie es losgeht. Ich halte mich so ruhig wie möglich, kaue langsam und lustlos. Bravsein, stillsein. Nichts neben den Teller fallen lassen, keine Flecken machen. In meiner Erinnerung schmeckt alles gleich. Eine braune Sauce bedeckt das Fleisch, eine weiße Sauce das Gemüse. Die Farben von Karotten, Erbsen oder Stangenbohnen liegen begraben auf dem Grund einer Schüssel aus weißem Porzellan. Ein feiner Goldrand umkreist sie. Er glänzt wie etwas Fremdes. Solange die Mutter lebte, war der Abstand zwischen dem Goldrand und den Speisen immer derselbe. Ich erinnere dieses Gold, das mir gefiel, auch das Aufblitzen des Siegelrings meines Vaters im versilberten Löffelstiel, der aus der Schüssel ragte. Das Abendessen zog sich hin. Wussten sieüberhaupt, dass ich dasaß. Jetzt, an einem beliebigen Abend in jener Zeit zwischen meinem Geburtstag und dem ersten Schnee warten wir auf den Vater. Seit Stunden, scheint mir, brennt das Licht. Ich stecke im Schlafanzug. Meine Spielsachen sind weggeräumt. Untätig sitze ich auf dem mir bestimmten Stuhl und warte. Ich sehne mich nach meinem Vater. Wann endlich würde er kommen, der hübsche Mann mit seinem dichten dunklen Haar und der goldenen Brille. Mit seiner tiefen Stimme. Wo war sein früheres Lachen. War es meine Schuld, dass ich es nie mehr hörte. Was bedeutete dieses kurze Lächeln, als dürfe es keiner sehen. War ich schuld, dass er abends so spät nach Hause kam. Bist brav gewesen, sagte die Mutter oft. Und manchmal in verändertem Tonfall„Was träumst du vor dich hin“. Die ganze Schulzeit hindurch sollte ich den Satz zu hören bekommen. Träumen, Traum. Damals gab es nur ein ungefähres Verstehen, das Fragen hatte ich mir beinahe ganz abgewöhnt. Vorsichhinträumen, Nichtstun– eine Bedrohung, die meine Mutter nicht ertragen konnte. Vermutlich verschob sie meinen Teller nach rechts, legte mir Papier und Zeichenstifte hin. Hier. Ich wollte nicht zeichnen, ich wünschte, mein Vater käme endlich. Hunger hatte ich nicht. Süßigkeiten waren bei uns stets vorrätig. Ab und zu stopfte sich die Mutter ein Bonbon in den Mund. Mir gab sie zwei. Eines für jetzt und eines für später. Immer schon war ich dick gewesen. Hunger hatte ich nie. Mittags aßen wir in der Küche. Es roch nach Scheuerpulver. Erst später wusste ich, woher der Geruch stammte. Wir saßen auf Küchenhockern, Mutter und ich. Es gab Milchreis, Grießklöße, Apfelmus. Immer Süßes. Speisen, vor denen mich noch heute ekelt. In die Stille ließ die Mutter einen Satz fallen. Was ist an mir nicht recht. Der unselige Satz, auf den es keine Antwort geben kann. Ich verstand den Satz nicht. Sie sah aus wie immer. Kurz vor meinem sechsten Geburtstag hatte sie sich die Haare schneiden lassen und begonnen, Hosen zu tragen. Selbst diese Hosen sahen sich, soweit ich mich zurückerinnern kann, alle gleich. Brauner Strick. Stets trug sie eine Trägerschürze. Sowie Vater heimkam, zog sie sie aus. War er nun endlich da, so stellte er zuerst seine beiden schweren Taschen ab. Dann gab er Mutter die Hand. Ich schmiegte mich an ihn. Sein Gesicht sah ich nicht. Als wollte ich nur seine Hand spüren. Ein weicher Druck auf meinem Haar, an meinen Schulterblättern.Über mir der warme Klang seiner tiefen Stimme, wie für mich allein bestimmt. Kaum setzte sich