Sonnabend, 6. Juli– 11.07 Uhr
„Oh Monfree, quelqu’un a enlevé Marie-Claire!“
Dem folgte ein Schwall weiterer französischer Worte, die Manfred Thaler nicht verstand. Er sprach ohnehin kaum Französisch. Wann immer seine Frau vor Aufregung in ihre Muttersprache verfiel, redete sie so schnell, dass er gar nichts mehr begriff.
„Monique, bitte beruhige dich. Was ist los? Was ist mit Marie-Claire?“
„Sie’aben entführtmon petit bébé!“ Monique heulte los.
Manfred war für einige Augenblicke erstarrt und umklammerte den Telefonhörer, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Schlagartigüberfiel ihn das Gefühl, einen Albtraum zu erleben, der mit der Angst begann, sein Kind nie wiederzusehen. Oh Gott, bitte, nur das nicht! Tausend Gedanken und Bilder schossen ihm durch den Kopf, eins schlimmer als das andere. Das schlimmste zeigte seine kleine Tochter tot in einer trostlosen Umgebung, weggeworfen wie eine zerbrochene Puppe. Er fühlte Panik in sich aufsteigen und kämpfte sie mit eisernem Willen nieder. Er musste einen klaren Kopf behalten. Unter allen Umständen, auch wenn ihm vor Angst und damit einhergehender Verzweiflung zum Schreien war. Und zum Heulen.
„Was genau ist denn passiert?“ Hysterisches Schluchzen.„Monique? Rede mit mir!“
„Isch’abe gelassenma petite auf die Terrasse nurun moment, um zu gehen ins Bad. Als isch komme zurück, sie ist weg. Dafür liegtune lettre in ihre Laufstall.“
„Was für ein Brief?“
„Worin sie stellen ihre absurdenrevendications. Oh Mon-free, du musst kommen sofort nach’ause!“
Er war schon aufgestanden und dabei, seinen Computer auszuschalten.„Hast du die Polizei gerufen?“
„Mais non! Das’aben sie verboten! Wir rufenla police, und sie tötennotre enfant! Monfree, komm schnell!“
„Ich bin unterwegs.“
Er unterbrach die Verbindung und stellte fest, dass er am ganzen Körper zitterte. Er erwog, die Polizei sofort anzurufen. Im Gegensatz zu Monique machte er sich keine Illusionen darüber, dass sie ihr Kind nur lebend wiedersehen würden, wenn sie der Polizei die Sacheüberließen. Zunächst musste er sich aber selbst ein Bild von der Sache machen. Monique neigte manchmal zuÜbertreibungen. Und aus ihrer Schilderung wurde er sowie nicht ganz schlau. Was nicht nur an ihrem halb französischen Gestammel lag. Außerdem hoffte er, dass sich das Ganze als Irrtum oder böser Streich herausstellte.
Andererseits hatte er befürchtet, dass eines Tages so etwas passieren könnte. Niemand war so schnell so erfolgreich wie er, ohne sich ein paar Feinde zu machen und Neider auf den Plan zu rufen. Aber er hatte geglaubt, dass es ausreichte, seine Firma zu sichern, sie mit dem neuesten und besten Equipmentüberwachen zu lassen und an seinem Grundstück Alarmanlagen undÜberwachungskameras anzubringen. Im Leben hätte er nicht damit gerechnet, dass jemand am hellichten Tag in einem dicht besiedelten Wohngebiet ein Kind von der Terrasse entführen könnte.
Und wenn er nicht jeden Sonnabend, manchmal bis in die Nacht, in seiner Firma arbeiten würde, sondern stattdessen zu Hause gewesen wäre, dann hätte Monique Marie-Claire nicht allein lassen müssen und seine Tochter wäre nicht entführt worden. Oder der oder die Entführer hätten sich das Kind mit Gewalt geholt, wobei irgendjemand möglicherweise schwer verletzt oder sogar tot auf der Strecke geblieben wäre.
Manfred schloss hastig sein Büro ab, aktivierte den Sicherheitscode der Tür und ran