1 – RABINAL, GUATEMALA, 1537
Nach Mitternacht saß Bruder Bartolomé de Las Casas noch immer in seinem von Kerzenschein erhellten Arbeitszimmer in der spanischen Mission des Maya-Dorfes Rabinal. Ehe er zu Bett ging, musste er noch die Tageschronik seines Berichts an Bischof Marroquin niederschreiben. Die Amtskirche vom Erfolg der von den Dominikanern gegründeten Missionen in Guatemala zu überzeugen, war nur möglich, wenn ihre Aktivitäten auch sorgfältig dokumentiert wurden. Er zog seine schwarze Kutte aus und hängte sie an einen Haken neben der Tür. Für einen Moment blieb er regungslos stehen und lauschte den nächtlichen Geräuschen – dem leisen Gurren und Zwitschern der Vögel und dem Zirpen der Insekten, das die Stille füllte.
Er trat an den hölzernen Hängeschrank an der Wand, öffnete ihn und holte das wertvolle Buch heraus. Kukulcan, ein Mann von königlichem Geblüt, der für seine große Gelehrsamkeit berühmt war, hatte dieses und zwei andere Bücher zu Bruder Bartolomé gebracht, damit er sie untersuchen konnte. Las Casas legte das Buch auf den Tisch. Seit Monaten studierte er es schon, und die Arbeit, die er sich für diese Nacht vorgenommen hatte, war von großer Bedeutung. Also legte er einen Bogen Pergament auf den Tisch und schlug das Buch auf.
Diese Seite war in verschiedene Felder unterteilt. Darin befanden sich Bilder von sechs menschenähnlichen Fantasiewesen, die, wie er vermutete, Gottheiten darstellen sollten. Sie nahmen jeweils eine sitzende Haltung ein und blickten nach links. Zu jedem Bild gehörte eine schmale Kolumne von Hand geschriebener komplizierter Symbole, die, wie ihm Kukulcan erklärt hatte, zur Maya-Schrift gehörten. Die Farbe der Buchseiten war weiß, während die Bilder in Rot, Grün und Gelb mit gelegentlichen blauen Tupfern ausgeführt worden waren. Die Schrift selbst war schwarz. Bruder Las Casas spitzte seinen Federkiel sorgfältig an, unterteilte das Blatt in sechs vertikale Abschnitte und begann die Schriftzeichen zu kopieren. Es war zwar ein schwieriges und aufwendiges Unterfangen, aber er betrachtete es als einen Teil seiner Arbeit. Diese Arbeit gehörte genauso zu seiner Berufung als Dominikaner wie seine Kleidung – das weiße Gewand, das Reinheit symbolisierte, und der schwarze Mantel als Zeichen der Buße. Er hatte keine Ahnung, welche Bedeutung die Schriftzeichen hatten, und auch die Namen der Gottheiten waren ihm unbekannt, aber er wusste immerhin, dass sich in den Bildern Mitteilungen verbargen, die die Kirche entschlüsseln musste, um ihre neuen Mitglieder zu verstehen.
Für Las Casas war die behutsame, geduldige Bekehrung der Maya eine persönliche Pflicht, eine Form von Buße. Bartolomé de Las Casas war nämlich nicht im Frieden in die Neue Welt gelangt. Er war mit dem Schwert gekommen. Im Jahr 1502 war er mit dem Gouverneur Nicolás de Ovando von Spanien nach Hispaniola in See gestochen und schließlich in einemencomienda, einem unterworfenen Land, angekommen, ausgestattet mit dem Recht, alle Indios zu versklaven, die er dort antraf. Sogar 1513, nach einem Jahrzehnt voller Grausamkeiten – durch die Eroberer hervorgerufen – und nachdem er zum Priester geweiht worden war, beteiligte er sich noch an der Unterwerfung der Indios auf Kuba und ließ sich mit einem Anteil an der Beute in Gestalt einer Übereignung von Ländereien und Indios belohnen. Wenn er jetzt über se