: Erwin Uhrmann
: Ich bin die Zukunft Roman
: Limbus Verlag
: 9783990390054
: 1
: CHF 8.80
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: Erzählende Literatur
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Mann flüchtet in ein hoch gelegenes Berghaus in den Alpen. Niemand weiß, wohin Sebastian Leitner geht, als er nach einem Termin mit seinem Kreditsachbearbeiter den Entschluss fasst zu gehen. In dem Haus hoch in den Alpen quartiert er sich für einen Monat ein. Für die alte Bergwirtin ist er der einzige Gast. Aus dem einen Monat werden mehrere Jahre. Als die Hausbesitzerin stirbt, bricht der Kontakt zur Außenwelt ab. Während die karge Berglandschaft allmählich von Wiesen und Wäldern überwuchert wird und die Jahreszeiten sich in Sonnen- und Nasszeit ändern, breiten sich unten Wüsten aus und die Menschen verlieren Sicherheit und Schutz - die Welt geht zugrunde. Das Hochtal, in dem Leitner lebt, ist ein kleiner Garten Eden. Um zu überleben, züchtet er Tiere und baut Pflanzen an. Eines Tages taucht Mali, die Enkelin der alten Frau, mit ihrem edlen Freund Ludovigo im Berghaus auf.

Erwin Uhrmann, 1978 in Niederösterreich geboren, lebt in Wien. Studierte Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Mitbegründer des KünstlerInnenvereins Kunstwerft, zahlreiche Kunstprojekte. Diverse Stipendien und Lesereisen, Mitarbeit im Essl Museum für Gegenwartskunst und Leitung des dortigen Literaturprogramms. Lehrt gemeinsam mit Moussa Kone 'Schreiben über Kunst'. Bei Limbus: Der lange Nachkrieg (2009), Glauber Rocha (2011).

2

Leitner war konzentriert einem steilen Weg durch den Wald gefolgt. Er hatte in dichtem Geäst und sturmbeschädigtem Unterholz nach Wegmarkierungen gesucht, durchwegs atemlos. Mehrere Muskelpartien schmerzten ihn, jene am hinteren Kiefer, jene im Nacken und jene um die Schulterblätter herum. Nach einem Steilstück, das er gebückt hochgelaufen war, kam er in einen Wald mit Rotbuchen, die Stamm an Stamm gesetzt waren. Geduldig stolperte erüber die Wurzeln der Bäume, die aus dem Boden ragten wie Tentakel. Der Pfad mündete in einen schmalen, ungesicherten Passierweg und wurde bei einer Wasserpumpstation zu einem breiten Schotterweg. Als er den Betonsockel des Pumphauses von Weitem sah, fasste er den ersten Gedanken seit Stunden, er wusste, dass er auf dem richtigen Weg ins Hochtal sein musste. Ein Stück weit ging er am Innenrist, weil die Wunde einer aufgeplatzten Blase brannte und er sich vorstellte, der Stoff seiner Socken verbinde sich schon mit dem Fleisch, Faser an Faser.

Die Schneise, durch die der Passierweg sich zog, war das einzige Wegstück, das nicht steil anstieg, sich sogar stellenweise zu einem Hohlweg vertiefte. Dort fühlte er es kühl vom Erdreich abstrahlen, so kühl, dass er Gänsehaut am Rücken spürte.

Seit er die Nummerntafeln von seinem Auto abgenommen und im Kofferraum verstaut hatte und seine Augen minutenlangüber den Parkplatz am See, die dunkle Wasseroberfläche und den Ufersaum geglitten waren, hatte er nicht mehr pausiert. Der Schweiß auf seiner Stirn war getrocknet und kristallisiert, etwas Ekelhaftes rann aus ihm heraus und gab diesen Salzkristallen einen widerwärtigen Beigeschmack. Der zweite Abschnitt der Schneise, die ihn an den Fuß des Hochtals brachte, plagte ihn dermaßen, dass er in der brütenden Hitze ständig den Text eines Kinderliedes,Im Märzen der Bauer, in Gedanken wiederholte, dabei alle paar Schritte pausieren und tief Luft holen musste. In diesen Pausen spürte er den Schmerz in seinen Beinen, der sichüber die Oberschenkel bis zu seinen Hüften zog. Er mühte sich ab weiterzugehen und machte alle paar Meter eine weitere Pause, stützte die Hände auf den Knien ab und atmete tief durch, fluchte in Gedanken ein wenig, so wie er am Land fluchen gelernt hatte, mit schmutzigen Ausdrücken. Das Fluchen erleichterte den Aufstieg, weshalb er immer schneller fluchte und das Fluchen einen Rhythmus bekam wie ein Lied. Dazu kickte er ein paar Steine alle paar Meter, und wenn es besonders beschwerlich wurde, trat er kräftig in das Geröll, sodass Staub und Steine aufspritzten.

Als er das Geröllfeld unterhalb der Steilwand passierte, war es kurz nach Mittag, windstill und die Sonne stand unerreichbar hoch. Seine kalt gebliebenen Beine streiften am niedrigen Geäst, das in der Hitze zu wippen schien. Es juckte alle paar Meter stechend und er schlug mit der flachen Hand nach den Insekten, traf aber nur Dornen und herumschwirrende Pflanzensamen, die ihm auf der Haut kleben blieben.

Vom Boden her roch es nach Kräutern. Eine Maus huschteüber seine Füße, als er sonnengeblendet in die Kiesel blickte und die hellen Punkte vor seinen Augen zu tanzen begannen. Er blieb stehen und saugte Luft in seine Lungen, die stachen. Sein ganzer Körper pumpte, kam ihm vor, und blieb er stehen, pumpte er noch weiter, ohne Zutun. Leitner erinnerte sich daran, wie er als Kind einmal einen Berg hochgelaufen war, weil er eine Wette abgeschlossen hatte. Als er oben war– und es hatte ihn extreme, für ihn damals fast unmenschliche Anstrengung gekostet–, hatte seine Lunge nicht aufgehört schnell zu atmen, seine Muskeln hatten seine Beine weiter bewegt und er hatte kurz Panik verspürt, nicht mehr stoppen zu können und völlig die Kontrolleüber seinen Körper zu verlieren.

Kurz vor dem Hochtal, das er an der Oberkante der Steilwand schon erahnen konnte, hörte er einen Schuss. Diffus wie Störfeuer zerstreute sich der Knall, hallte an den Wänden wider und zog in alle Richtungen. Er mühte sich, dem Ursprung nachzuhorchen, drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, ging in die Knie, auf die Zehenspitzen, in jeder Position klang es anders. Der Schall war zwischen den Wänden, dieüber dem Tal aufragten, gefangen, und als das Echo verhallt war, drückte er die Augenlider zusammen und spürte ein Stechen im Kopf, von der Sonne und dem jähen Lärm.

Die Strapazen waren der Preis für die Freiheit, die er unter der Anstrengung, wie er meinte, einfach nicht spüren konnte, ebenso wenig wie die kühle Ruhe, welche ihm seit dem Betrachten des Bildes in die Knochen gefahren war, dennoch, das wusste er, war er bloß in einerÜbergangssituation, hatte er erst einmal das Berghaus oben erreicht. Er war, dachte er, hier oben sicher nicht das einzige Lebewesen, das der Schuss in Deckung getrieben hatte. Er ging in Deckung, wie schon viele andere, die in die Berge geflohen waren, die Kämpfer um Sandino, denGeneral de Hombres Libres in Nicaragua, oder die Papuas auf der Flucht vor den Militärschergen von Präsident Suharto in Indones