: Kai Bleifuß
: Goethes Mörder
: hockebooks: e-book first
: 9783957510013
: 1
: CHF 6.20
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 287
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Johann Goethe, Langzeitstudent im Frankfurt unserer Zeit, hat ein Ziel. Er will Schriftsteller werden. Bereits als Kind verfolgte er diesen Weg: seinen Gameboy nutzte er damals ausschließlich zur Inszenierung mitreißender Dramen. Doch das war früher. Er ist pleite und seine Freundin Jennifer hat ihn verlassen. Anstatt also auf den großen Literaturbühnen zu lesen, spricht er auf dem Arbeitsamt vor. Dort wird ihm von einer mysteriösen Fremden ein Job bei einer Firma für Real Virtuality angeboten. Johann willigt aus purer Not ein. Und bald schon scheint sich sein Schicksal endlich zu wenden ... Was wäre, wenn Johann Wolfgang von Goethe heute leben würde? Wenn er trotz vieler Hindernisse an seinen Träumen festhalten würde und bereit wäre, alles für deren Verwirklichung zu tun? »Goethes Mörder« - ein postmoderner Bildungsroman voller Sprachwitz und Sprachkunst.

Kai Bleifuß, geb. 1983, erhielt bereits zu seinem Abitur den Scheffelpreis. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Politikwissenschaft und Kunstgeschichte. 2007 wurde er mit dem Kunstförderpreis der Stadt Augsburg in der Sparte »Literatur« ausgezeichnet. 2012 promovierte er mit einer Arbeit zum Thema »Demokratie im Roman der Weimarer Republik. Annäherung und Verteidigung durch Ästhetik«, für welche die Stiftung der Universität Augsburg ihm den Mieczys?aw-Pemper-Preis verlieh. Zudem war er Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Rahmen seiner weiteren wissenschaftlichen Arbeit absolvierte er u. a. einen Forschungsaufenthalt an der University of London. Kai Bleifuß lebt zur Zeit in Göppingen.

Neuntes Kapitel


Backsteinraster

Unglücklicherweise war es Chi und Lars gelungen, ihm in einem schwachen Moment die Bemerkung zu entlocken, dass er seine Jobsuche keineswegs ganz aufgeben wollte. Sie hatten ihn beschworen, dass er nichts Unüberlegtes tun solle; Lars hatte ihm mitgeteilt, nach dem letzten Anruf fast ein ganz kleines bisschen besorgt gewesen zu sein, und sie hatten ihm das Versprechen abgenötigt, das dritte Arbeitsangebot, das doch gewiss kein bisschen besser sein würde als die beiden ersten, zugunsten der glänzenden Radiokarriere sausen zu lassen, die von Chi erst noch eingefädelt werden sollte. Ach, es war ja völlig richtig, was sie sagten. Es gab wohl keinen Menschen auf der Welt, der mehr recht hatte als Chi...

..., so ging es Johann durch den Kopf, als er allein in einer Art Vorzimmer seines dritten möglichen Arbeitgebers saß, eines Unterhaltungs- und Dudelunternehmens mit dem Namen„Spectacular“, von dessen genaueren Aufgaben er sich kein Bild machen konnte. Auch jetzt wurde seine Fantasie nicht eben angeregt, denn es handelte sich bei dem Warteraum um ein düsteres fensterloses Kabuff, dessen rote Backsteinwände zu verputzen offenbar niemandem eingefallen war. Die einzige Lichtquelle, eine nackte alte Glühbirne an nacktem herabhängendem Kabel, goss eine seltene Gattung ockergelber und sehr schattenfördernder Möchtegern-Helligkeit aus. Nein, er hatte das Versprechen nicht gebrochen. Er war in seiner Neugier und Neigung zum Vollständigen nur nicht fähig gewesen, das eine nochÜbrigbleibende komplett auszulassen, ohne wenigstens einen Blick darauf geworfen zu haben. Dass sein Tun nicht eben logisch erscheinen mochte, dessen war er sich durchaus bewusst– aber er fürchtete, dass er sich, wäre er nicht gekommen, noch in fünfzig Jahren gefragt hätte, was ihm hier wohl begegnet wäre. Das bedeutete allerdings nicht, dass er die Stelle annehmen wollte. Ja um ganz sicher zu gehen, dass er nicht in Versuchung geriete, hatte er zu dem bevorstehenden Bewerbungsgespräch einen halb zerrissenen blauen Anton angezogen, der auf einem Müllcontainer im Hinterhof seines Wohnhauses gelegen war, und die Haare ungekämmt gelassen.

„Herr Goethe? Bitte sehr!“ Eine kleine Frau mit fahler Hautfarbe, die ihm vorhin bereits geöffnet hatte, schaute interesselos herein, gab ihm einen antreibenden Wink und enteilte schneller, als er nur aufstehen konnte. Er trat in den Gang und sah, dass von der Person auch hier außen bereits nichts mehr zu sehen war. Vermutlich hatte sie...diese Richtung eingeschlagen. Diejenige, die er noch nicht kannte. Indem er seinen Schritt beschleunigte, drang Johann tiefer in das Gebäude vor, einen alten Fabrik- und Schreibstubenkomplex mit dem Charme des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, der nahe dem Stadtrand in einer windigen Gegend lag. Links und rechts rauschten Legionen von Backsteinen und etliche tiefbraune massiv wirkende Türen vorbei, die sich binnen kurzem ins Unendliche zu verschieben begannen. Ganz offensichtlich hatten sie es darauf abgesehen, ihn zum Narren zu halten. Er bog um eine Ecke, hinter der sich das gleiche Bildöffnete wie zuvor, nur dass die Wände in diesem Trakt vielleicht noch ein kleines bisschen abgeschossener und renovierungsbedürftiger wirkten. Die Fahle blieb verschwunden.

Goethe wollte anhalten und umdrehen, schließlich hatte er nun erkannt, dass auch dies kein Ort zum Jubilieren war, und wenn man sich nicht einmal um ihn kümmerte, bestand für ihn auch keine Veranlassung zum Höflichsein. Allerdings fühlte er sich von dem Anblick des leeren und noch unbetretenen Korridors auf schwer erklärliche Weise angezogen. Wie das Bauwerk im Ganzen strahlte dieser Bereich, so abschreckend er sich auchäußerlich darbot, einen ganz bestimmten staubigen Zauber aus, der gleichsam ein Sehnen nach mehr enthielt, und trotz aller Wiederholung wollte Johann glauben, dass jeder Stein und jede Tür ein wenig anders, ja letztlich einzigartig war. Was sich ihm hier darbot, war nichts anderes als... gewissermaßen... einliterarischer Gang. Begleitet von den sprichwörtlichen vielfachen Flüsterstimmen, die ein solches Gemäuer zu füllen pflegen, schritt er weiter kräftig aus, ohne langsamer zu werden.

Plötzlich allerdings wurde er jäh gestoppt, als jemand eine Tür zur Rechten ruckartig aufriss und diese ihn so hart an der Schulter traf, dass ihm drollige Leuchtpunkte durchs Blickfeld tanzten. Ihm entgegen trat ein Mann, der–... Oder machen wir es kurz: Ihm entgegen trat der Schleimer aus der Arbeitsagentur; die Leserschaft erinnert sich. Auch Goethe glaubte sich dunkel zu erinnern, und zwar daran, dass der Mensch Falke hieß. Aber halt– so durchfuhr es ihn, als das Flimmern etwas nachließ–, möglicherweise sah diese Gestalt jenem Schleimer auch nur sehrähnlich. Doch wie dem auch sei: Der Kerl passte zu seiner Umgebung wie die Faust aufs Auge, denn war man bei Backsteinen schon glücklich, wenn sie sich nurein klein wenig voneinander unterschieden, so galt das für komplette Häuser bereits nicht mehr, umso weniger für Menschen, und wenn Falke so ausgesehen hatte, als wären zwecks seiner Erschaffung bereits alle Sprüchbeutel und Windfahnen Frankfurts zusammengeworfen worden, so musste man f&uu