: Latifa Nabizada, Andrea C. Hoffmann
: 'Greif nach den Sternen, Schwester!' Mein Kampf gegen die Taliban
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426425992
: 1
: CHF 10.00
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 228
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Frauen haben in Afghanistan möglichst unsichtbar zu sein - das hindert Latifa Nabizada nicht, sich ihren Traum zu erfüllen: Sie wird Pilotin. Doch ihr Land ist unrettbar zerrissen, sie gerät zwischen die Fronten und ins Visier der Taliban. Denen ist sie ein Dorn im Auge - erst recht, als sie die eigene Tochter kurzerhand mitnimmt in den Hubschrauber und ihr aus der Luft das Land zeigt, das sie liebt, und die Menschen, für deren Zukunft sie täglich kämpft.

Latifa Nabizada, geboren 1971, schloss als erste Frau Afghanistans die Ausbildung zur Hubschrauberpilotin ab und flog zahlreiche Einsätze, später auch für die Mudschaheddin. Unter den Taliban flüchtete sie nach Pakistan, kehrte jedoch nach einem Jahr zurück in ihre Heimat. Nach der Heirat und der Geburt ihrer Tochter war sie für die internationale Schutztruppe ISAF im Einsatz und arbeitete, bedroht von den Taliban, für das afghanische Verteidigungsministerium als Leiterin der Abteilung 'Human Rights and Gender Politics'.

Kapitel1:


Frei wie ein Kind

An einem bitterkalten Wintertag lag der Schnee meterhoch in unserem Garten. Auf den Straßen Kabuls marschierten sowjetische Soldaten, die einen Aufstand gegen die kommunistische Regierung verhindern sollten. Unsere Heimatstadt war zu einer Bühne der Weltpolitik geworden, auf der die großen Machtkämpfe der Zeit aufgeführt wurden. Aber von alldem wusste ich als achtjähriges Mädchen natürlich noch nichts.

Ich wusste lediglich, dass mein Vater ein Offizier in der afghanischen Armee war. Meine fast gleichaltrige Schwester Lailuma und ich schauten ihm gern dabei zu, wenn er sich morgens vor dem Spiegel die Uniform zuknöpfte. Auch an diesem Januarmorgen des Jahres1980 hielt ich ein Tuch bereit, um seine Orden an der Brust zu polieren. Lailuma reichte ihm seine Mütze und prüfte, ob sie auch richtig saß. So aufgeputzt, fanden wir unseren Vater ungeheuer elegant.

Durch das niedrige Fenster, an dem sich Frostblumen gebildet hatten, sahen wir ihm hinterher, als er durch den Tiefschnee in Richtung Gartenmauer stapfte. Am Tor drehte er sich noch einmal um – und winkte zum Abschied. Wir winkten zurück.

Im Winter haben afghanische Kinder drei Monate Schulferien, so dass wir zu Hause bleiben durften. Während meine Mutter und meine beiden ältesten Schwestern Nasima und Schapirai mit dem Kochen des Mittagessens beschäftigt waren, spielten wir anderen Kinder miteinander. Mein Lieblingsspiel warcheschm pendakan: Verstecken. Das spielten wir immer im Sommer, denn in unserem Garten gab es viele Apfel- und Birnbäume und reichlich Gelegenheit, sich dahinter zu verbergen. Wenn ich meine Geschwister aufspürte, schrie ich vor Stolz und Häme – und lachte sie aus. An diesem Tag aber lag der Schnee zu hoch fürs Versteckspiel. Wir tollten herum und veranstalteten eine Schneeballschlacht. Meine älteren Geschwister bauten einen Schneemann. Lailuma und ich halfen begeistert mit. Meine Mutter, die mit ihren zehn Kindern immer alle Hände voll zu tun hatte, schenkte uns keine besondere Beachtung, solange wir uns innerhalb der Gartenmauern aufhielten. Nur wenn wir hinaus auf die Straße stürmten, schimpfte sie und drohte damit, uns auszusperren.

Unser Viertel heißt Khaikhane, und meine Eltern wohnen bis heute dort in diesem ruhigen mittelständischen Wohnviertel im Norden Kabuls. Damals lebten dort Usbeken, Tadschiken, Hazara und Paschtunen Seite an Seite. Es kümmerte niemanden, zu welcher Volksgruppe die Nachbarn gehörten, da das Zusammenleben der Ethnien keinerlei Problem darstellte. Wir ahnten nicht, wie radikal sich das bald ändern sollte. Doch damals lagen vor den Gebäuden noch keine Sandsäcke zum Schutz vor Selbstmordattentätern, und die Fassaden, die heute Einschusslöcher tragen, waren noch unversehrt.

Wir Kinder waren völlig in unser Treiben im Schnee vertieft, als plötzlich das Tor aufflog. Unser Spiel erstarb. Vier Männer in Uniform stürmten mit schweren Stiefeln in unseren Garten, das Gewehr über der Schulter. Unseren Vater, dem die Mütze schief auf dem Kopf hing, hielten zwei von ihnen wie einen Gefangenen in ihrer Mitte. Ein dritter Mann schubste ihn von hinten und trat ihn immer wieder in die Beine. Vaters Gesicht war geschwollen, er ließ den Unterkiefer hängen. Er warf uns Kindern einen traurigen, fast entschuldigenden Blick zu. Wir waren zutiefst erschrocken.

Instinktiv zogen wir uns in Richtung Haus zurück, wo meine verängstigt blickende Mutter schon in der Tür stand. Wie immer, wenn sie zu Hause war, hatte sie