: Diederichs Verlag
: Walter Aichele, Martin Block
: Zigeunermärchen
: Diederichs Verlag
: 9783641140137
: 1
: CHF 4.40
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: Märchen, Sagen, Legenden
: German
In diesen rund 70 Zigeunermärchen haben der orientalische Ursprung des indischen Mutterlandes Spuren hinterlassen, wie auch Züge von Märchen aus durchwanderten Länden. Andere Geschichten sind vollständig eigene Erfindungen, die uns die Lebens- und Glaubenswelt der Zigeuner erklärt.

Die Diederichs-Reihe 'Märchen der Weltliteratur' ist die umfassendste Sammlung ursprünglicher Erzählliteratur aller Völker und Zeiten. Sie versammelt das Schönste, was sich die Menschen je erzählt haben: Mythen und Legenden, Göttersagen und Dämonengeschichten, Feen- und Zaubermärchen, gewitzte Tierfabeln und herrliche Schwänke. Wer die Eigenart anderer Völker verstehen will, wird hier Wege abseits des Mainstreams finden. Eine moderne Märchenbibliothek für eBook-Leser.

6. Der getreue Kahlkopf


Es lebte einmal ein Mann, der baute einen Dreimaster, nahm sich Schiffsmannschaft und fuhr alsdann vom weißen Meer zum schwarzen Meer. Eines Tages ging er an Land, um Trinkwasser zu schöpfen, da sah er vier oder fünf spielende Knaben. Unter ihnen befand sich ein kahlköpfiger Junge. Er rief den Kahlkopf zu sich und fragte ihn:»Wo ist hier der Brunnen?« Der Knabe zeigte ihn, und der Mann schöpfte Wasser.»Kommst du mit mir?« fragte er dann den Knaben. Der gab zur Antwort:»Ich möchte schon, aber ich habe noch eine Mutter.« –»Nun, so wollen wir zu deiner Mutter gehen.« Da gingen sie miteinander zu des Knaben Mutter.»Willst du mir deinen Jungen mitgeben?« fragte der Schiffsherr die Frau.»Ja, ich gebe ihn dir.« Der Mann zahlte ihr den Lohn für einige Monate und nahm den Knaben mit. Dann gingen sie in See und fuhren bis zu einem großen Dorfe. Hier rasteten sie, um Trinkwasser einzunehmen.

In dem Dorfe aber wohnte ein König. In jenen Tagen nun war der Sohn des Königs auf seinem Spaziergang einem Derwisch begegnet, der ein Gemälde feilbot. Es war das Bild seiner Tochter. Der Königssohn kaufte es, denn dieses Mädchenbild warüber die Maßen schön. Der Derwisch, ihr Vater, hatte an dem Bilde seiner Tochter sieben Jahre gemalt. Der Königssohn aber ließ das Bild am Brunnen aufstellen. Vielleicht könnte von denen, die dahin kämen, um Wasser zu trinken, einmal jemand sagen:»Ich habe dieses Mädchen schon gesehen!« Auch der Schiffsherr schöpfte dort Wasser. Und als er aufblickte, sah er die Schöne und staunte:»Welch eine Schönheit!« Als er wieder auf seinem Schiff war, erzählte er seinen Leuten:»Im Dorfe dort ist ein wunderschönes Mädchenbild, ich habe noch nie ein gleiches gesehen.« Der Kahlkopf sprach:»Ich werde sie mir ansehen.« Er ging hin, doch als er das Bild sah, begann er zu lachen und rief:»Das ist ja die Tochter des Derwischs! Woher habt ihr nur ihr Bild?« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da wurde er ergriffen und zum Schlosse geführt. Der Kahlkopf aber hielt sich schon für verloren, als man ihn ergriff. Nach zwei Tagen fragten ihn andere Leute nochmals:»Kennst du jenes Mädchen?« –»Ich kenne sie; wir sind in einem Dorfe aufgewachsen. Ihre Mutter ist jetzt tot. Als wir klein waren, legte sie uns beide an ihre Brust.« Da sprachen die Leute:»Wenn du nun vor den König gebracht wirst, so fürchte nichts!« Und bald darauf führte man ihn zum König. Der fragte ihn:»Du kennst jenes Mädchen, mein Sohn?« –»Ja, ich kenne sie, wir sind zusammen aufgewachsen.« –»Kannst du sie hierher bringen?« Der Kahlkopf entgegnete:»Ich werde sie herführen, allein du mußt mich mit einem Dreimaster, gefüllt mit Goldstücken, ausrüsten. Dann gib mir dazu noch zwanzig Sänger mit Spielleuten. Auch deinen Sohn werde ich mit mir nehmen. Es wird aber sieben Jahre währen, bis ich wiederkomme.«

Sie versorgten sich also für sieben Jahre mit Brot und Wein. Dann gingen sie in See und gelangten zur Heimat des Mädchens. Bei Tagesanbruch ließ der Kahlkopf das Schiff dicht am Hause des Mädchens vorüberfahren, denn ihr Haus lag dicht am Meer. Der Kahlkopf sprach:»Ich werde jetzt an Deck steigen und oben auf und ab gehen. Doch von euch darf sich keiner blicken lassen.« Er stieg also nach oben und ging auf dem Schiff auf und ab.– Als die Tochter des Derwischs sich vom Schlummer erhob, da beschien die Sonne das Schiff und zugleich aber auch ihr Wohnhaus. Sie trat heraus und rieb sich die Augen. Sie sah dort einen Mann auf und ab gehen; sie neigte sich vor und erkannte unseren Kahlkopf. Was mochte er hier suchen?»Was willst du hier?« rief sie ihm zu.»Ich bin deinethalben gekommen. Es sind so viele Jahre vergangen, seit ich dich zuletzt sah. Ich bin hierher gekommen, um dich wiederzusehen. Willst du nicht ein wenig aufs Schiff kommen? Wo ist denn dein Vater?« –»Weißt du nicht, daß mein Vater mein Bild gemalt hat? Er will es jetzt verkaufen. Ich erwarte seine Rückkehr.« –»Komme herüber, wir wollen ein Weilchen miteinander plaudern.« Das Mädchen kleidete sich an. Der Jüngling ging alsdann zu den Schiffsleuten und sprach:»Verbergt euch, so daß keiner gesehen wird. Doch sobald ich sie in die Koje nehme und mit ihr plaudere, müßt ihr die Schiffstaue durchschneiden.« Das Mädchen kam in die Koje. Sie setzten sich nieder und plauderten. Währenddessen aber fuhr das Schiff ab.

Da ließ der Jüngling den Königssohn aus seinem Versteck hervorkommen.»Wer ist dieser?« fragte erstaunt das Mädchen und setzte hinzu:»Ich möchte jetzt wieder gehen!« –»Bist du närrisch, meine Schwester? Komm, wir wollen noch ein wenig von diesen Süßigkeiten kosten!« Er gab dem Mädchen davon, und sie ließ sich betören. Nun meinte der Kahlkopf:»Jetzt sollen dir die Musikanten etwas spielen.« Er ging und holte die Musikanten, und sie begannen zu spielen. Das Mädchen sprach nochmals:»Ich muß fort, denn mein Vater kommt.« –»Bleibe noch ein wenig hier, damit dir die Jungen noch etwas spielen.« Während aber jene Musik machten, hörte sie nicht, daß das Schiff schon wieder in Fahrt war.»Nun aber muß ich gehen!« sagte sie schließlich und ging an Deck und sah, wo ihr Haus lag.»Mein Bruder«, rief sie,»was hast du mir getan?« –»Was soll weiter werden? Schau, jener Mann, der neben dir sitzt, ist der Sohn des Königs, und ich bin gekommen, um dich für ihn zu holen!« Das Mädchen aber weinte.»Was soll ich tun?« rief sie aus.»Soll ich mich ins Meer stürzen?« So klagend ging sie zum Königssohn und setzte sich zu ihm. Die Musik spielte, und Speise und Trank gab’s imÜberfluß. Der Kahlkopf aber war allein oben, als Kapitän stand er regungslos auf seinem Posten, während die anderen sich’s wohl sein ließen. Sie waren wohl zwei oder drei Tage schon unterwegs. Da kamen eines Tages beim Morgengrauen drei Vögel auf das Schiff geflogen. Außer dem Kahlkopf war niemand an Deck. Zwei der Vögel begannen zu fragen:»Vogel, Vogel, was gibt es denn, Vogel?« Der dritte erwiderte:»Die Tochter des Derwischs ißt und trinkt mit dem Sohn des Königs und ahnt nicht, was für ein Verhängnis ihr bevorsteht.« –»So erzähle es uns«, baten die anderen Vögel.»Sobald sie ankommen werden, wird e